‚Das Projekt „SENCES“ untersucht Schlussfolgerungen des Gehirns. Dafür erhält es eine Förderung des Europäischen Forschungsrats von rund 2 Millionen Euro.
Den Augen können bestimmte Details verborgen bleiben. Das gilt beispielsweise für den „blinden Fleck“, schlechte Sehkraft oder wenn etwas im Weg steht. Diese Lücken in der Sensorik kann das menschliche Gehirn aber offenbar nur schwer akzeptieren.
Deshalb denkt es sich die fehlenden Informationen kurzerhand dazu. Doch wie belastbar sind diese sogenannten inferierten Informationen und wie stark bezieht das Gehirn sie in seine Entscheidungsfindung mit ein?
Diesen und weiteren Fragen geht der Marburger Psychologe Prof. Dr. Alexander Schütz gemeinsam mit seinem Team in „SENCES“ nach. Das Projekt soll unter anderem weitere Erkenntnisse liefern, wie eine lückenlose Repräsentation der Umwelt konstruiert wird und inwiefern diese Prozesse für die Diagnose und Behandlung von Augenerkrankungen relevant sein können. Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) fördert das Vorhaben mit einem „ERC Consolidator Grant“ von knapp 2 Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren.
Für Schütz handelt es sich bereits um die zweite Förderung des ERC – 2015 erhielt er einen „ERC Starting Grant“ von knapp 1,5 Millionen Euro.
„Die sensorische Information über unsere Umwelt enthält zahlreiche Lücken, die durch die Anatomie unserer Sinnesorgane, Schädigungen im Zuge von Augenerkrankungen oder durch Eigenschaften der Umwelt entstehen“, erklärte Schütz. „So können wir zum Beispiel im blinden Fleck nichts sehen, weil sich dort keine Photorezeptoren befinden.“
Augenerkrankungen wie die altersbedingte Makuladegeneration können zu einer Schädigung der Photorezeptoren führen, so dass Gesichtsfeldausfälle entstehen. In der Umwelt sind Objekte außerdem häufig nicht vollständig sichtbar, da sie durch andere Objekte verdeckt werden.
„All diese fehlenden sensorischen Informationen werden durch das Gehirn ergänzt, um zu einer lückenlosen Repräsentation unserer Umgebung zu gelangen“, erklärte Schütz. „Weitestgehend unklar ist jedoch bislang, inwieweit das Gehirn diese inferierte Information im Vergleich zu sensorischer Information gewichtet und für Wahrnehmung, Metakognition und Handlungssteuerung benutzt.“
In vorangegangenen Untersuchungen konnten Schütz und sein Team zeigen, dass Probanden der inferierten Information mehr vertrauen als sensorischer Information an anderen Stellen. „Das ist ein paradoxes Ergebnis“, bemerkte Schütz: „Das Gehirn kommt gewissermaßen zu eigenen Schlussfolgerungen und vertraut diesen Schlussfolgerungen dann mehr als das, was die Augen tatsächlich abbilden.“ Solch eine Dissoziation zwischen der tatsächlichen Qualität von Informationen und dem subjektiven Vertrauen könne durch gegenwärtige Wahrnehmungstheorien nur unzureichend erklärt werden.
Im Projekt „Sensation and inferences in perception, metacognition and action“ (SENCES) sollen diese Inferenzen daher systematisch untersucht und analysiert werden. „Wir vergleichen unterschiedliche Fälle, in denen fehlende sensorische Informationen durch inferierte Informationen ersetzt wurden und untersuchen sie hinsichtlich ihres Einflusses auf Wahrnehmung, Metakognition und Handlungssteuerung“, erläuterte# Schütz. Dafür werden Wahrnehmungs- und Blickbewegungsexperimente, Elektrophysiologie und Modellierung sowie Untersuchungen mit Patientinnen und Patienten durchgeführt.
Dabei kooperiert Schütz unter anderem mit Prof. Dr. Walter Sekundo und Dr. Anke Messerschmidt-Roth von der Augenklinik des Universitätsklinikums Marburg. „Mit unserer Arbeit möchten wir Erkenntnisse darüber gewinnen, wie eine lückenlose Repräsentation unserer Umwelt konstruiert wird und wie die vielen Lücken in der sensorischen Information ,versteckt‘ werden“, erklärte Schütz. Das Projekt soll außerdem Informationen liefern, inwiefern diese Prozesse auch für die Diagnose und Behandlung von Augenerkrankungen relevant sind.
„Prof. Dr. Schütz widmet sich einem äußerst spannenden Forschungsfeld, das weitere Erkenntnisse über die Mechanismen der Wahrnehmung bringt „, sagte Universitäts-Vizepräsident Prof. Dr. Michael Bölker. Das seien „Erkenntnisse, die auch in der Medizin Anwendung finden werden. Ich freue mich sehr, dass der Europäische Forschungsrat das Projekt mit einem Consolidator Grant fördert. Das ist eine tolle Auszeichnung für Professor Schütz und ein weiteres starkes Zeichen, dass die Universität Marburg auch auf europäischer Ebene Spitzenforschung leistet.“
Der Europäische Forschungsrat „European Research Council“ (ERC) bietet exzellenten Forscherinnen und Forschern aller Fachgebiete unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten für innovative Projekte. So fördern die ERC Consolidator Grants herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich zwischen 7 und 12 Jahren nach der Promotion befinden, mit bis zu drei Millionen Euro.
* pm: Philipps-Universität Marburg