Mehr als 200 Menschen haben am Montag (9. November) der Opfer des NS-Regimes gedacht. Sie verfolgten die Besinnungsstunde für Opfer der Novemberpogrome im Live-Stream oder direkt im „Garten des Gedenkens“.
An diesem Tagjährten die Novemberpogrome von 1938 sich wieder. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer trauerten und erinnerten vor Ort und digital im Live-Stream zusammen mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (CJZ), mit der Jüdischen Gemeinde und dem Magistrat der Stadt Marburg.
Kerzen brannten im Garten des Gedenkens, als die Dunkelheit hereinbrach. Dazwischen lagen Rosen und Briefe mit Worten der Trauer, des Unverständnisses. Einige Menschen waren dem Aufruf der Stadt gefolgt und hatten – über den Tag verteilt – an dem Ort der Opfer des NS-Regimes gedacht.
Genau 82 Jahre zuvor brannte an dieser Stelle die Marburger Synagoge. „Es waren Marburger*innen, die die Hand und den Brandsatz gegen ihre Mitbürger*innen, gegen ihre Nachbar*innen erhoben“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies am Abend bei der Besinnungsstunde.
Rund 200 Menschen waren wieder bei der Besinnungsstunde dabei. Einige von ihnen kamen persönlich zum Garten des Gedenkens, erinnerten mit Abstand untereinander. Die meisten Menschen verfolgten die Veranstaltung in diesem Jahr jedoch – bedingt durch die Corona-Pandemie – im Live-Stream. Mit Musik, mit Gebeten von Amnon Orbach, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Marburg, und mit Gedenkansprachen setzten die Veranstalter einen würdigen Rahmen für die Erinnerung und die Kranzniederlegung.
„Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war in ganz Deutschland eine Nacht des Terrors“, sagte Spies. Synagogen brannten. Läden und Wohnungen wurden zerstört.
tausende Menschen jüdischen Glaubens wurden misshandelt. In den darauffolgenden Tagen wurden sie in Konzentrationslager verschleppt. Die meisten kehrten nie zurück.
Sechs Millionen Menschen wurden im Holocaust gezielt ermordet. Es waren nicht nur Menschen jüdischer Herkunft, sondern auch Menschen mit Behinderung, politisch Andersdenkende, Sinti und Roma, Homosexuelle und viele andere. Die Erinnerung an sie müsse lebendig gehalten werden, „damit wir nie vergessen: nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus unserem Land, in unserer Stadt“, erklärte das Stadtoberhaupt.
Denn Antisemitismus sei auch heute noch eine Realität. Antisemitische Angriffe würden wieder mehr. Dagegen stelle sich die Stadt Marburg – neben und vor ihre Mitmenschen, Nachbarn und Freunde jüdischen Glaubens.
„Das Grauen darf sich niemals wiederholen“, forderte Spies. „Ein Virus geht um“, zog Probst Helmut Wöllenstein einen aktuellen Vergleich. „Sein Name: Antisemitismus!“
Der Virus gehe um die ganze Welt, sei seit Jahrtausenden pandemisch unterwegs, gehe über jede Grenze; kein Alter, keine soziale, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit machten immun dagegen, erläuterte Wöllenstein.
Nach dem NS-Regime schien er fast verschwunden, blitzte beim Stammtisch nach dem fünften Bier mal auf. Aber Viren könnten auch blitzschnell wieder virulent werden, stellte der Probst klar. „Wer daran infiziert ist, kommt nicht zuerst selbst daran zu Tode – sondern verbreitet Leid.“
Die Islamische Gemeinde Marburg geachte der Shoa mit persönlichen Worten. „Man hat das Gefühl, nicht nur zu gedenken, sondern wieder warnen zu müssen“, sagte Bilal El-Zayat „Es sind wirre Zeiten, in denen die Stimmen des Hasses lauter werden und meinen, alles zu übertönen.“
Der Vorsitzende der Islamischen Gemeinde Marburg erklärte: „Es ehrt uns als Marburger Muslime sehr, dass wir hier sprechen dürfen und dazu auserkoren wurden, in diesem Jahr die Zettelkästen zu beschriften.“ Das sei ein Hoffnungsschimmer über die Stadtgrenzen hinaus.
Im Dunklen leuchteten die Zettelkästen, in denen sich persönliche Texte der Marburger Muslim*innen finden. Die Zeilen haben sie unter dem Eindruck eines Besuchs im KZ Buchenwald mit den Marburger Ehrenbürger*innen Anmon Orbach und Schwester Edith geschrieben – und bei der Gedenkstunde auch persönlich vorgetragen.
„Müssen Ereignisse erst Geschichte werden, bevor man darüber weint?“, fragte sich Shaima Ghafury. „Der Holocaust ist Teil der Geschichte der ganzen Menschheit“, schrieb Aladin Atalla. „Wir müssen uns erinnern und verhindern, dass so etwas jemals wieder irgendwo passiert. Wir dürfen nie zur schweigenden Masse gehören!“
Hamdi Elfarra erklärte: „Wie menschlich oder unmenschlich wir sind, zeigt sich in unserem Respekt und in unserem Umgang mit Andersdenkenden.“
El-Zayat stellte fest: „Worte des Hasses entfesseln Taten. Dies lehrt uns die Geschichte ebenso, wie die Gegenwart“ und „Rassismus und Ausgrenzung beginnen nicht mit den Worten, sondern mit dem Gefühl, dass einige Menschen mehr wert sind, als andere“ oder „Jeder vermeintlich Fremde könnte ein Freund sein und alles was er mitbringt, macht unsere Welt bunter und menschlicher“ – auch diese Texte regen in der Stille des Ortes zum Nachdenken an. „Das Heute gehört dir, also tue, was du heute tun musst, um die Welt zu verbessern.“
* pm: Stadt Marburg