Das Marburger Leuchtfeuer 2017 haben die Stadt Marburg und die Humanistische Union (HU) am Freitag (9. Juni) Katharina Nocun verliehen. Die politische Aktivistin würdigten sie damit als „leuchtendes Beispiel für herausragenden ehrenamtlichen Einsatz zugunsten vielfältiger sozialer Bürgerrechte“.
„Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, fasste der HU-Regionalvorsitzende Franz-Josef Hanke das Motto der Feier im Historischen Saal des Rathauses anlässlich der Preisverleihung an die 30-jährige Bürgerrechts- und Netzaktivistin zusammen. Die gebürtige Polin für das Marburger Leuchtfeuer vorgeschlagen hatte der Musiker Jochen Schäfer.
Auf die Initiative des Jury-Sprechers und ehemaligem Oberbürgermeisters Egon Vaupel geht die Einladung an Karolin Schwarz zur Feierstunde zurück, die die Laudatio auf die Preisträgerin hielt. Schwarz ist Begründerin des Projekts hoaxmap.org, das sich der Richtigstellung von „Fake News“ über Geflüchtete verschrieben hat.
Bevor Schwarz das Wort ergriff, hieß Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die Gäste der Feierstunde willkommen. „Wir als Stadt, die von Innovationsfähigkeit durchdrungen ist, sind stolz, eine Frau mit einem solchen Engagement in den sozialen Medien auszeichnen zu dürfen“, sagte Spies.
Das Internet und die digitale Kommunikation hätten längst alle Bereiche von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfasst, führte der Oberbürgermeister aus. „Diese Umwälzungen haben soziale und ökonomische Folgen, die durchaus mit den großen industriellen Revolutionen der Neuzeit vergleichbar sind“, sagte Spies, mit all ihren Chancen für Wohlstand, Fortschritt und Emanzipation, aber zugleich auch mit allen Risiken neuer sozialer Unsicherheit, Marginalisierung und Überwachung der Menschen.
„Wir sind Zeugen eines gleichzeitig lokal und weltweit stattfindenden Umbaus von Wissens-, Denk-, Arbeits-, Entscheidungs- und Organisationsstrukturen“, führte der Oberbürgermeister weiter aus. Es komme entscheidend darauf an, den technischen Fortschritt in einen sozialen Fortschritt umzusetzen.
„Es gilt, die politische Gestaltung der Lebensverhältnisse und den Vorrang demokratischer Prinzipien vor den Interessen mächtiger Akteure zu sichern“, betonte Spies. Nötig sei, das Konzept einer freien, gleichen, gerechten Ordnung in der digitalen Gesellschaft zu konkretisieren.
„Das Primat der Politik muss wiederhergestellt werden“, forderte der Oberbürgermeister. „Davon sind wir noch weit entfernt.“
Für dieses Ziel arbeitet auch Kattascha. Unter diesem Namen sind die Preisträgerin und ihr Blog im Netz bekannt.
„Sie ist eine, die Theorie und Praxis, online und offline zu vereinen weiß“, sagte Nocuns Mitstreiterin und Laudatorin Schwarz. Zum Beispiel gelte das für die Dekonstruktion des Parteiprogramms der AfD: „Während viele Politiker und Journalisten noch über jedes der berühmten Stöckchen gesprungen“ seien, das die AfD ihnen mit bewussten und gezielten politischen Unkorrektheiten hinhalte, habe die Preisträgerin sich unermüdlich durch die Wahlprogramme gekämpft und gezeigt, welche Positionen die Partei tatsächlich vertrete.
Vielfach wende sich diese Partei gegen Minderheiten und Sozial Schwache. „Wenn wir den Sourcecode der AfD – wie Katharina Nocun es nennt – nicht kennen, können wir ihn auch nicht entmystifizieren“, erklärte Schwarz die Überzeugung der politischen Aktivistin.
Nocun wurde in Polen geboren. Im alter von drei Jahren kam sie mit ihren Eltern gemeinsam nach Deutschland.
„Sie ist als Migrantin selbst betroffen von vielen Forderungen der AfD und kann nachvollziehen, wie es denen geht, die in den vergangenen Jahren zu uns gekommen sind“, erklärte Schwarz. Gegen diese Ideologie „haben wir die Möglichkeit, Informationen aufzubereiten und zu publizieren“, bemerkte Schwarz.
Ein weiteres Thema, das die Preisträgerin umtreibe, sei die Überwachung. Der Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung habe zu ihrer Politisierung beigetragen. „Katharina Nocun erinnert kontinuierlich daran, welche kurz-
und langfristigen Folgen Überwachung und Ausweitung der Befugnisse von Geheimdiensten haben können“, berichtete die Laudatorin.
Als weitere Aktivitäten „Kattaschas“ zählte sie unter anderem die Unterstützung für den Whistleblower Edward Snowden, ihre Mitgliedschaft im Whistleblower-Netzwerk, ihre Kampagnen gegen das Handelsabkommen CETA oder auch ihre Arbeit als Botschafterin der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen auf. „Irgendwann war sie auch mal für die Piratenpartei aktiv“, erinnerte sich Schwarz. „Sie engagiert sich auf so vielfältige Weise für die Gesellschaft, dass man sich fragt, wann sie überhaupt noch Zeit hat, in Ruhe einen Kaffee zu trinken.“
„Wir beide sind Teil einer Generation, die als politikverdrossen gilt“, sagte die Laudatorin über sich selbst und die Geehrte. Diese Generation fände Wege zur politischen und gesellschaftlichen Teilhabe jenseits der meisten Parteien und ihrer „veralteten Strukturen“. Das Internet biete den Raum, sich zu artikulieren und zu organisieren auch für marginalisierte Gruppen.
„Sorgen wir dafür, dass sie diese Möglichkeit nutzen und dennoch ruhig schlafen können“, forderte Schwarz. Dann zitierte sie Nocun: „Wenn wir es nicht tun, tut es kein anderer für uns.“
Ihm sei es eine besondere persönliche Freude, die beiden Frauen heute in der Feierstunde treffen zu können, sagte Jury-Sprecher Vaupel im Anschluss. Wie Schwarz würdigte auch er das breit aufgestellte Engagement der 30-jährigen Preisträgerin in unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.
Aus ihrer Kritik gegen die Freihandelsabkommen zitierte Vaupel Nocun mit den Worten: „Ich wünsche unseren Kindern jemanden, der ihnen sagt: Du bist nicht dein Schulabschluss. Du bist nicht dein Marktwert. Du bist nicht dein Bankkonto. Du bist nicht deine Herkunft. Du bist ein einzigartiger Mensch, der mehr verdient, als von Sachzwängen verwaltet zu werden. Vergiss das niemals. Und fordere es auch ein!“
Klarer könne man nach Ansicht der Jury den Respekt vor allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, sozialen oder wirtschaftlichen Stellung und ihren Bildungserfolgen kaum ausdrücken. Das in diesen Worten vertretene Menschenbild erfülle in geradezu idealer Weise die Kriterien des Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte.
Ihr sei es eine „riesige und ganz besondere Freude“, von der Humanistischen Union ausgezeichnet zu werden, bedankte sich die Preisträgerin schließlich selbst. Das Marburger Leuchtfeuer verliehen zu bekommen, sei eine große Ehre: „Ich betrachte dies als Ermutigung, mich weiterhin für Soziale Bürgerrechte, das Recht auf informelle Selbstbestimmung und gegen den Rechtsruck in dieser Gesellschaft zu engagieren.“
Dann sprach die Preisträgerin über die beiden großen Themen ihres Engagements: Soziale Gerechtigkeit und neue Technologien. „Das große Wort Soziale Gerechtigkeit darf nicht zur beliebigen Phrase verkommen“, warnte Nocun mit Verweis auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf und erntete dafür spontanen Applaus aus dem Publikum.
Sie bescheinigte Deutschland eine „riesige Gerechtigkeitslücke“. Sie kritisierte, dass Handelsabkommen vor allem Investoren schützten, aber nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und dass die Herkunft der Eltern in kaum einem anderen Land einen so gravierenden Einfluss auf den Werdegang der Kinder habe wie in Deutschland. Auch eine „echte Gleichberechtigung“ der Geschlechter sieht die Preisträgerin noch nicht verwirklicht.
Nocun warnte zudem eindringlich vor einem Überwachungsstaat als Antwort auf den Terrorismus: „Wenn wir die Freiheit abschaffen, wäre der größte denkbare Anschlag auf die freie Gesellschaft geglückt“, sagte sie.
Mit großer Sorge erfülle sie, „dass heute in Deutschland wieder Flüchtlingsunterkünfte brennen. Es liegt an uns, der Zivilgesellschaft, dem Hass und der Gewalt Einhalt zu gebieten. Lasst uns gemeinsam wachsam sein!“
* pm: Stadt Marburg