Wie werden Menschen dazu bewegt, umweltfreundliche Verkehrsmittel wie Busse und Fahrräder zu benutzen? Dazu müssten vor allem die Mobilitätskultur und das Bewusstsein verändert werden, sagte Prof. Sebastian Bamberg.
Der Verkehrspsychologe referierte beim ersten „Marburger Dialog zur Verkehrsentwicklung“, mit dem die Universitätsstadt mit den Menschen ins Gespräch kommen und ein Mobilitätskonzept entwickeln will. Wie die Mobilität in Zukunft aussehen soll, wie die Menschen sich bewegen und was es dafür braucht, das will die Stadt gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern in den „Marburger Dialogen zur Verkehrsentwicklung“ besprechen. Aus den Verkehrsdialogen will die Stadt wichtige Impulse für ein gesamtstädtisches Verkehrs- und Mobilitätskonzept mitnehmen.
Zum Auftakt der Dialogreihe ging es um „Impulse für ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten“, um Verkehrspsychologie und um ein Umdenken. Zum Thema Umdenken hatte das Stadtoberhaupt ein aktuelles Beispiel dabei: „Es war eine kleine, feine, leise Revolution“, erinnerte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies bei der Begrüßung der mehr als 150 Menschen im voll besetzten Saal des Technologie- und Tagungszentrums (TTZ).
Damit meinte er die Umgestaltung der Elisabethstraße, die seit Herbst 2019 auf jeder Seite eine Fahrradspur aufweist, wofür die Autos eine Spur abgeben mussten. Zusammen mit den neuen Fahrradwegen in der Bahnhofstraße wurden deutliche Verbesserungen für die Radelnden geschaffen.
Dennoch funktioniere der Verkehr „wunderbar“. „Das zeigt, dass das Umdenken bei den Menschen angekommen ist“, schloss Spies.
Das Umdenken – Referent Bamberg nannte es „Umparken im Kopf“ – stand im Zentrum des von Thomas Ranft vom Hessischen Rundfunk (HR) moderierten Verkehrsdialogs. Der Psychologieprofessor von der Fachhochschule Bielefeld zeigte, dass eigentlich ähnliche Städte völlig unterschiedliche Mobilitätsmuster haben können.
So sei die Ruhrgebietsstadt Essen extrem am Auto orientiert. Der Anteil der Radler*innen liege bei gerade einmal zwei Prozent. Die nur 90 Kilometer entfernte Stadt Münster sei dagegen eine Hochburg des Radverkehrs, der hier knapp 40 Prozent erreiche.
Bamberg erklärte diese Unterschiede vor allem mit dem sozialen Konsens, der entscheide, welche Mobilitätsform Priorität haben soll. Anhand von Studien zeigte er, dass es zwar in vielen Städten die Erkenntnis gebe, dass mehr nachhaltige Mobilität nötig sei. Zugleich solle es aber keine Einschränkungen für Autos geben.
„Dass sich beides tendenziell ausschließt, scheint nicht reflektiert zu werden“, sagte Bamberg. Aber das Bewusstsein der Menschen könne sich ändern. „Solche Prozesse zu initiieren und durchzuführen, ist die Aufgabe von Politik und Stadtgesellschaft“, sagte der Wissenschaftler.
Was sich ändert, wenn andere Verkehrsmittel benutzt werden, schilderte die Pendlerin Stefanie Mai während der Podiumsdiskussion. Für einen Sommer ließ die berufstätige Mutter das Auto stehen und fuhr mit Bus und Mitfahrgelegenheiten von Kleinseelheim ins elf Kilometer entfernte Marburg.
„Meine Kinder fanden es zum Teil nicht so toll“, räumte sie ein, fügte jedoch hinzu: „Aber ich habe innerhalb kurzer Zeit eine andere Haltung bekommen.“ Weil die Busse mitunter nur alle paar Stunden fahren, habe sie ihre Arbeit effektiver organisiert. Sie ist überzeugt: „Die Zeit, die ich im Bus sitze und aus dem Fenster gucke, ist keine verlorene Zeit.“
Dass Radfahren auf manchen Strecken in und um Marburg auch Mut brauche, berichteten Rüdiger Woelke von der AG Verkehr in der Chemie-Gewerkschaft IGBCE und Peter Reckling von der Arbeitsgemeinschaft Mobilität und Versorgung der Dorfentwicklung. Woelke fährt jeden Tag mit dem Fahrrad von Marburg zum Pharmastandort Görzhausen. Reckling radelt von Dagobertshausen in die Innenstadt. Auf beiden Strecken gibt es keine Radwege.
Friedens- und Konfliktforscher PD Dr. Johannes M. Becker lobte die neuen Radspuren in der Nordstadt. Wichtig sei aber, dass die Autos nicht auf den Radwegen parkten: „Wir müssen es den Menschen leicht machen, zu Fuß zu gehen, aufs Fahrrad zu steigen oder den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen.“
Dass es zum Teil auch Fördermittel des Landes für die Stärkung dieser Mobilitätsformen gibt, berichtete Referatsleiter Bernd Schuster vom Hessischen Verkehrsministerium.Verkehrsforscher Bamberg hält es trotzdem für „naiv zu glauben, dass viele Verkehrsteilnehmer etwas ändern wollen“. Die meisten schöben immer neue Gründe vor, warum sie beim Autofahren bleiben müssten.
Auch der Dagobertshäuser Ortsvorsteher Reckling beobachte viele, „die es einfach bequemer finden, Auto zu fahren“, obgleich der Bus inzwischen stündlich fahre. Andererseits fuhren in den 70er Jahren noch 70 Prozent der Studierenden in Marburg Auto. Mit dem sehr gut funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr und dem Semesterticket sei diese Zahl auf sieben Prozent geschrumpft, berichtete Becker.
„Es geht um Menschen und Verhalten“, fasste Moderator Ranft zusammen. „Wir können uns ausrechnen, was passiert, wenn wir so weitermachen wie bisher“, sagte der Wetterexperte angesichts des Klimawandels, der die Menschheit ernsthaft bedrohe. Es gehe „“m das große Ganze“.
Die Stadt Marburg hat die „Marburger Dialoge zur Verkehrsentwicklung“ gestartet, um gemeinsam mit der Bevölkerung das gesamtstädtische Verkehrs-
und Mobilitätskonzept voranzubringen. Bei der zweiten Dialogveranstaltung am Dienstag (28. April) ab 19.30 Uhr im TTZ geht es um „Impulse für einen nachhaltigen Wirtschaftsverkehr“. Beim „Tag der Mobilität“ am Dienstag (30. Juni) dreht sich die Veranstaltung im TTZ ab 19.30 Uhr um „Impulse für die Stadt von morgen“.
* pm: Stadt Marburg