„Wie human ist die Humanmedizin?“, fragte Dr. Eckart von Hirschhausen. „Haben wir nur ein Blutbild oder haben wir auch ein Menschenbild?“
Mit ihrem Medienpreis „Bobby“ zeichnete die Bundesvereinigung Lebenshilfe (BVLH) den Arzt, Autor und Kabarrettisten am Donnerstag (15. November) im vollbesetzten Erwin-Piscator-Haus (EPH) aus. Knapp 800 Delegierte aus ganz Deutschland waren zur 23. Mitgliedderversammlung der Lebenshilfe nach Marburg gekommen, um am Ort der Gründung zwei Tage lang über anstehende Fragestellungen zu diskutieren. Am 23. November 1958 hatten hier 15 Personen die Lebenshilfe gegründet.
In ihrer Eröffnungsrede skizzierte die Bundesvorsitzende Ulla Schmidt kurz die Geschichte der Lebenshilfe Ausführlich würdigte sie dabei das Wirken des niederländischen Sozialarbeiters Tom Mutters. Ihm sei die überaus erfolgreiche Arbeit der ersten Vereinigung für geistig behinderte Menschen zu verdanken.
Der einstige UN-Beauftragte für die Zusammenführung sogenannter „Displaced Persons“ mit ihren Familien hatte aus seiner Erschütterung über die menschenverachtenden Lebensbedingungen geistig behinderter Kinder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs heraus die Gründung dieser Organisation angestoßen, um diesen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Während der NS-Diktatur waren Hunderttausende von ihnen als „angeblich lebensunwertes Leben“ ermordet oder aus Furcht vor Ermordung von ihren Eltern versteckt worden. Auch Jahre später noch lebte dieses faschistische Bild angeblich „bildungsunfähiger“ Menschen in vielen Köpfen und sogar im bundesdeutschen Recht fort.
Vieles hat sich seither verändert. Inklusion und Selbstbestimmung sind an die Stelle der einstigen „Fürsorge“ getreten. Doch vieles bleibt nach Schmidts Ansicht immer noch zu tun.
So muss sich die Lebenshilfe nun erstmals mit dem Leben geistig behinderter Senioren befassen. Dieses Alter hatten die vorangegangenen Generationen mit einer geistigen Behinderung aufgrund der Nazi-„Euthanasie“ kaum erreicht.
Ein ebenfalls überkommenes Problem sind Wahlrechtsausschlüsse. Menschen, die unter Betreuung stehen, wird das Wahlrecht in vielen Bundesländern wie beispielsweise Hessen sowie für den Deutschen Bundestag immer noch verweigert. Nachdem die Beseitigung dieser Diskriminierung im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankert wurde, hofft Schmidt auf eine gesetzliche Regelung bis zum Jahresende.
Als weitere Probleme skizzierte sie den Mangel an bezahlbarem Wohnraum sowie die mögliche Aufnahme von Schwangerschaftstests auf Trisomie 21 als Regelleistung von Krankenkassen. Zwar wende sich die Lebenshilfe nicht gegen derartige Untersuchungen, wohl aber gegen ihre Verankerung als Regelleistung, die dann den falschen Eindruck erwecken könnte, Behinderungen seien vermeidbar und müssten „ausgerottet“ werden.
Sorgen bereitet der Lebenshilfe zudem das Wiedererstarken rechtspopulistischer Tendenzen in Politik und Gesellschaft. „Angst haben wir nicht“, erklärte Schmidts Amtsvorgänger Robert Antretter, „aber wir machen uns Sorgen darüber, dass Menschen wegen ihrer Gesundheit, Herkunft oder sexuellen Orientierung vermehrt ausgegrenzt werden“.
Bobby-Preisträger von Hirschhausen drehte diese Furcht ins Positive. „Wenn es 20 Prozent Rechte gibt, dann muss es auch 80 Prozent Aufrechte geben“, rechnete er vor. „Wir sind mehr; und wir müssen laut unsere Stimme erheben.“
Seinen „Bobby“ wolle er sich mit seiner Schwester teilen, denn sie leiste als Mitarbeiterin eines Behindertenprojekts tagtäglich die Arbeit, die auch die Lebenshilfe in so hervorragender Weise auszeichne. „Ich möchte all diejenigen würdigen, die diese Arbeit nicht im Schweinwerferlicht leisten, sondern im Verborgenen“, erklärte er. Gleiches gelte auch in der Medizin, wo Ärzte die Lorbeeren einheimsten, während Pflegekräfte finanziell und iin ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht die gebührende Anerkennung fänden.
Von Besuchen in der Einrichtung seiner Schwester habe er viel gelernt, berichtte Hirschhausen. Die Bewohner dort hätten ihn direkt gefragt: „Liebst Du mich?“ und „Kommst Du wieder?“
Die „Behinderten“ brächten damit direkt auf den Punkt, was die meisten anderen Menschen auch empfinden, meinte der Mediziner. „Wie behindert sind wir eigentlich, wenn wir uns nicht mehr trauen, diese grundlegenden Fragen zu stellen?“
Anhand eines Witzes stellte der Fernsehmoderator und Komiker seine Sicht auf Behinderungen vor: „Ein Stotterer kriegt den Auftrag, Bibeln zu verkaufen. Dabei ist er so erfolgreich wie kein anderer jemals zuvor.“
Auf die Frage, wie er diesen phänomenalen Verkaufserfolg erreicht habe, habe der Stotterer nur geantwortet: „Ich klingele und frage dann, ob die Leute die Bibel kaufen wollen oder ob ich sie ihnen vorlesen soll.“ Damit habe er aus seiner Einschränkung eine Stärke gemacht und zugleich die Hemmungen vieler Menschen ausgenutzt, die vom Stottern peinlich berührt werden.
Mit seiner Stiftung „Humor hilft heilen“ setzt sich Hirschhausen für eine menschenfreundlichere und positiv ausgerichtete Medizin ein. Dass Humor wirklich heilsam ist, bewies der neue Bobby-Preisträger bei der Preisverleihung mit einer zugleich launigen und tiefgehenden Dankesrede. Mit seinem Plädoyer für Vielfalt und gegenseitigen Respekt treffe er genau die Kernaussagen der Lebenshilfe, bedankte sich Schmidt bei Hirschhausen.
* Franz-Josef Hanke
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