Das Leben leben: Lebenshilfe-Gründer Tom Mutters wurde im TaSch wieder lebendig

„Wäre Tom nicht gewesen, gäbe es mich vielleicht gar nicht.“ Das sagte ein Bewohner des Kerstinheims der Theaterintendantin Eva Lange.
Während der Proben zur Szenischen Lesung „Man muss das Leben leben“ hatte sie Kontakt zu den behinderten Bewohnern der Marburger Einrichtung gesucht. Der Inszenierung merkt man das auch an: Auf ungewöhnliche Weise lesen die zwei Schauspieler Christian Simon und Anna Rausch aus dem Buch „Tom Mutters – Pionier, Helfer, Visionär“ von Markus Becker und Klaus Kächler.
Am Vorabend der Jubiläumsversammlung der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Erwin-Piscator-Haus (EPH) feierte Langes Inszenierung am Mittwoch (14. November) Premiere im „Kleinen Tasch“. Am 23. November 1958 hatten 15 Personen in Marburg die Lebenshilfe gegründet. Treibende Kraft hinter dieser Organisation zur menschenwürdigen Betreuung geistig behinderter Kinder und Jugendlicher war der Niederländer Tom Mutters.
Sein Leben und Wirken stellen das Buch und die Szenische Lesung in den Mittelpunkt. Eindringlich und zugleich mit großer Leichtigkeit brachten die beiden Ensemble-Mitglieder des Hessischen Landestheaters Marburg (HLTM) die Biografie eines großen Menschenfreunds und Kämpfers für Soziale Gerechtigkeit auf die Bühne.
Auf Fahrrädern radeln sie immer im Kreis herum. Dabei tragen sie abwechselnd Passagen aus dem Buch vor. Besser hätte man die quirlige Umtriebigkeit des Lebenshilfe-Gründers kaum darstellen können.
Zwischendurch bezieht Rausch auch einmal Position im Publikum. Dann wieder rennen beide über die Bühne, während der Text über die vielen Bitt- und Behördengänge Mutters berichtet, die er vor der Eröffnung des Kerstinheims im Jahr 1960 erledigen musste. Die dafür benötigte Summe von einer Million DM war seinerzeit unvorstellbar groß.
Doch Tom ließ sich nicht entmutigen. Er war beseelt von der Aufgabe, geistig behinderten Menschen zu einem Leben in Würde und einer gerechten Teilhabe an der Gesellschaft zu verhelfen. Den Anstoß dazu hatte ein Besuch in einer Behinderteneinrichtung im südhessischen Goddelau gegeben.
Dort stieß der damalige UN-Beauftragte für die Zusammenführung sogenannter „Displaced Persons“ mit ihren Familien auf erschreckende Zustände mit dahinvegetierenden Kindern in kahlen Räumen hinter Wänden und Stacheldraht ohne Spielzeug. Häufig waren sie sogar an ihre hölzernen Pritschen fixiert. Aus den Niederlanden war er einen anderen Umgang mit geistig behinderten Kindern gewöhnt.
„Tom der Gründer“, wie die Lebenshilfe ihn später nannte, reiste fortan unermüdlich durch Deutschland, um überall in der Republik die Gründung örtlicher Lebenshilfen anzustoßen. Seine Initiative fiel auf fruchtbaren Boden. Sehnlich hatten viele Eltern darauf gewartet, ihre Kinder endlich nicht mehr vor der Öffentlichkeit verstecken zu müssen, wo durchaus immer noch die Nazi-Parolen von Behinderten als angeblich „lebensunwertes Leben“ kursierten.
Zur Verbesserung der finanziellen Situation von Menschen mit Behinderungen gründeten Mutters und Hans Mohl vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) 1964 die „Aktion Sorgenkind“. Auch ihre Umbenennung in „Aktion Mensch“ (AM) war Thema der Hommage an Mutters. Allerdings fehlte auch nicht sein gescheiterter Versuch, den australischen „Bio-Ethiker“ Peter Singer mit einer Veranstaltung in Marburg vorzuführen, die aufgrund massiver Proteste zahlreicher Betroffener gegen eine Debatte über das Lebensrecht behinderter Menschen schließlich abgesagt werden musste.
Wenig ist bekannt über Mutters Wirken im Untergrund während der deutschen Besatzung der Niederlande. Verbürgt ist jedoch, dass seine Familie einen jüdischen Bekannten versteckte, der bei einem Gang an die frische Luft dann aber trotz gefälschter Papiere von den Nazis verhaftet und ermordet wurde.
Das trotz zweier Weltkriege insgesamt überaus reiche und fröhliche Leben des am 23. Januar 1917 in Amsterdam geborenen Sozialpädagogen zeigt diese Szenische Inszenierung aber nicht nur in einem quicklebendig dargetotenen Text und pfiffigen Dialogen zwischen den beiden Darstellern, sondern auch in Zitaten über Mutters und Bildern von ihm auf einer Leinwand. Im Alter von 99 Jahren starb Mutters am 2. Februar 2016 in seiner Wahlheimat Marburg.
In der anschließenden Diskussion waren sich alle Anwesenden einig, dass diese Szenische Lesung nicht nur in allen Lebenshilfe-Einrichtungen gezeigt werden und geradezu Pflichtprogramm aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter solcher Einrichtungen werden sollte; vielmehr zeigt sie das Leben eines Menschen, der sich durch nichts und niemanden entmutigen ließ. Gerade in Zeiten aufkeimender rechtspopulistischer Hetze gegen Geflüchtete und auch gegen Behinderte sollten möglichst viele Menschen diese beeindruckende und berührende Biografie auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sehen.

* Franz-Josef Hanke

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