Wenn du mich jetzt gerade fragen würdest, was Heimat bedeutet, dann würde ich sagen, Heimat hat etwas mit Kindheit zu tun. Und wenn du mich in zwei Minuten noch einmal fragen würdest, was Heimat ist, dann würde ich vermutlich sagen, Heimat ist eine Suche. Nach einem ultimativen Fixpunkt im Leben. Und nach einem Zuhause eben.
Gerade noch dachte ich, ich weiß was Heimat ist. Doch jetzt ist mein Bild wieder verschwommen. Ich konnte dem Grübeln nicht entkommen. Langsam aber sicher habe ich vernommen, wie unfassbar komplex diese Frage doch ist. Sie ist ein aufgeladenes Konstrukt voller Widersprüchlichkeit. Gebenedeit, dass jemals jemand blitzgescheid und meilenweit in die Welt hinaus schreit… was Heimat bitte bedeuten soll.
Naja, ich kann’s ja mal probieren. Was soll schon passieren.
Am Montagmorgen um halb acht sind Heimat Koordinaten. Geographische Daten und Opa’s Garten mit dem Spaten und den Toamten. Am Montagmorgen um halb neun ist Heimat dort, wo ich meine Seele baumeln lassen kann. Da bedeutet Heimat dieser eine Ort, an dem alles begann. Um halb zehn hat sie plötzlich etwas mit Niederlassen zu tun. Mit Sehnsüchten, die endlich ruhn’. Um halb elf ist sie auf einmal ein Gefühl, das neben mir auf der Straße spaziert. Und würdest du mich jetzt noch einmal nach der Bedeutung von Heimat fragen, würde ich sagen, sie ist meine Kompassnadel, die sich täglich aufs Neue austariert.
Am Dienstag um zwei ist Heimat etwas Konservatives. Sie ist Obsession mit Tradition, eine bedenkliche Passion mit Religion, obgleich der Baron des Kanton doch schon lange aus der Mode ist und ein Diakon noch nie wirklich ein Patron war. An diesem Dienstag ist Heimat monoton und synchron. Es fehlt ihr an Dimension und sie stürzt mich in die Depression. Sie ist der Ort meiner Erstkommunion und eine Stadt, in der ich nicht mehr wohn’.
Manchmal ist Heimat stummer Liebeskummer. Manchmal bedeutet sie ein gebrochenes Herz, weil Abschiedsschmerz. Und manchmal drohe ich in ihr zu ertrinken und in meiner Verlustangst zu versinken.
Am Mittwochmorgen in der früh ist die Heimat Spion und Spitzel, übermorgen Franzbrötchen und am Sonntag Wiener Schnitzel. Doch heute ist Heimat eine Sonderedition an Supermarktkassen. Da fällt es auf einmal so unfassbar schwer in Worte zu fassen, was es bedeutet, sie loszulassen.
Am Mittwochabend bedarf die Heimat Diskussion. Schließlich ist sie einzig und allein die projezierte Konstruktion einer romantisierten Illusion. An diesem Mittwochabend ist eigentlich alles ganz einfach und Heimat bloß eine Frage der Definition.
Und während ich mich nachts in meinem Bett wälze ist Heimat Nostalgie. Denn inwiefern ist sie Teil meiner Biographie? In solchen Nächten ist Heimat eine heimliche Träne, die der Selbstbeherrschung die Wange hinunterkulltert, wenn sie sich einen Moment lang unbeobachtet fühlt.
Am Donnerstag um zehn ist Heimat die Sehnsucht nach Zuflucht. Sie ist eine Fata Morgana, die ihr Wort nicht hält.Denn ich renne ihr immer noch hinterher, der Vorstellung einer heilen Welt. Und ein bisschen Heimweh kommt auch noch dazu. Der Heimatlosigkeit hinterher zu trauern bleibt jedoch besser ein Tabu. In solchen Momenten ist es mit der Heimat ganz schön mies. Denn wenn man sie einmal verließ, ist der Boden der Tatsachen ganz schön plump und fies.
An Freitagnachmittag habe ich es mit der Heimat wie die Kraniche, die in Richtung Süden fliegen. In meinem Zugvogel-Dasein heimatlos, fällt mir ein Stückchen Heimat immer wieder in den Schoß.
Manchmal ist Heimat eine Fusion von Ort und Zeit, und das Festhalten an der Vergangenheit. Und manchmal wird sie ihrem Versprechen eines Zuhauses mehr schlecht als recht gerecht. Mein Bezug zu ihr ist geschwächt, die Rückkehr stets ein Gefecht. Und als die Heimat allmählich einer neuen wich, und in all dem Fremden auf einmal nichts mehr dem Alten glich, da wurde sie etwas, das immer mehr verblich. Meine Heimat ist verstaubt. Daher habe ich sie zugeschraubt und mir erlaubt, sie zurück ins Regal zu stellen.
Heute ist Heimat weniger ein Ort, als viel mehr eine Emotion. Da bedeutet sie diese eine ganz bestimmte Person. Die Empfindung, einer besonderen Verbindung. Und morgen ist die Heimat des Kängurus Australien und übermorgen ist meine Heimat mein Herz.
Am Samstagmorgen sind Heimat Dialekt und Bräuche. Bierbäuche und Gartenschläuche und auch die Vogelscheuche, dort drüben auf dem Maisfeld mit den Heuballen. Auf einmal lasse ich mich gerne in sie zurückfallen. Nur für einen kurzen Moment, ich bin so müde.
Lass mich kurz in ihr verweilen, denn ich hänge zwischen Seilen. Ich weiß nicht wohin mit mir, drum’ will ich zurück zu ihr. Ich sonne mich in ihrer heilen Welt, weil mir Vertrautheit so gut gefällt. Hier ist endlich einmal Pause, und die Welt da draußen still. Ein Honig-Toast, das spendet Trost. Und auch der Baum vor meinem Fenster ist dreizehn Jahre später noch immer vermoost.
Ich dachte ich wäre bereit, ihr den Rücken zuzuwenden, um meine Freiheit nicht in Altbekanntem zu verschwenden. Ich dachte, dass sich Abenteuer hinter Heimatgrenzen befänden. Doch vielleicht wird das mit der Heimat und mir auch niemals richtig enden.
Und am Samstag um kurz vor Mitternacht ist Heimat grüne Soße und rießengroße Verwirrung. Da ist sie der Elbstrand und die Giraffentapete an meiner Kinderzimmerwand. Auch wenn wir sie täglich verfluchen, im Grunde sind wir ihn doch alle am Suchen.
Heimat ist zuhause. Die Erinnerung an die Gartensause und meinen ersten Kuss. Doch sag mal, ist Heimat denn unbedingt ein Muss?
Vielleicht ist Heiamt so vielschichtig wie eine Zwiebel. Doch vielleicht ähnelt sie auch eher einem Chamäleon? Wer weiß das schon. Ein kleines unschuldiges Wort, das ein Bild sich ständig ändernder Farben erschafft. Gut getarnt entlarvt sie uns jeden Tag aufs Neue. Denn ganz kollektiv und individuell, ist sie persönlich universell.
Liebe Heimat, wo bist du, wenn ich dich am meisten brauche? Wenn jedefrau und jederman und jederzeit und überall von Heimat spricht, was bleibt von dir noch übrig?
Selbst die Heimat ist auf der Suche nach ihrer Heiamt im Grunde also heimatslos. Und selbst die Heimat ist überfordert mit der Frage, was sie ihr eigentlich bedeutet. Woher soll ich es dann wissen, liebe Heimat? Woher soll ich wissen wo ich dich finde, wenn du dich selbst in dir verläufst?
PS: Ich glaube, ich hab’s jetzt doch raus. Heimat ist ein Sonntag.
*Leonie Schulz