70 Jahre danach: Der 17. Juni 1953 und seine Folgen

Von 1954 bis 1990 war der 17. Juni Nationalfeiertag der Bundesrepublik. Tränenreiche Reden bejammerten überall in Westdeutschland wortreich die Teilung, die die Redner aber fast alle längst akzeptiert hatten.

Als Grundschüler musste ich bis 1965 an den Gedenkstunden teilnehmen, die alljährlich in der St.-Laurentius-Schule in Lessenich stattfanden. Schon als Kind empfand ich diese Veranstaltungen als unaufrichtig, ohne ganz genau zu wissen, warum. Irgendwie störte mich die aufgesetzte Weinerlichkeit der Redner, die damals ausnahmslos alle männlich waren.
Das zugrundeliegende Ereignis behandelten sie in ihren Inszenierungen meist nur am Rande. Zwar war da vom „Volksaufstand in der Zone“ oder der „sogenannten DDR“ die Rede, doch wurden die Ereignisse weder nachvollzogen, noch genauer analysiert. Vielmehr erklangen dann Wörter wie „heldenhaft“, die eher einer Kriegsrhetorik entnommen waren als dem Vokabular der Demokratie.
Später habe ich den 17. Juni dann nurnoch verhöhnt. Eine Numer des Berliner Kabarettisten Wolfgang Neus lieferte mir die willkommene Argumentationslinie dafür. Neuss nannte drei „Eigenschaften eines Deutschen“, von denen jeweils zwei die dritte ausschließen.
Das waren „Intelligenz, Ehrlichkeit und Wiedervereinigungsgläugigkeit“: Entweder ist man intelligent und ehrlich; dann ist man nicht wiedervereinigungsgläubig. Oder man ist intelligent und wiedervereinigungsgläubig; dann ist man nicht ehrlich.
„Oder aber man ist ehrlich und wiedervereinigungsgläubig“, fuhr Neuss seinerzeit fort. DieSchlussfolgerung musste er dann gar nicht mehr benennen.
Nach der Wiedervereinigung, die dann 1989 ganz unerwartet über Deutschland hereinstürzte, wurde der 17. Juni als „Tag der Deutschen Einheit“ durch den 3. Oktober ersetzt. Der volksaufstand des 17. Juni 1953 geriet damit mehr und mehr in Vergessenheit.
Die Städtepartnerschaft Marburgs mit Eisenach hat die „Wende“ indes überdauert. Die gemeinsame Stadtheilige bindet beide Städte auf wunderbare Weise aneinander. Auch der amtierende Ministerpräsident von Thüringen verknüpft mit seiner Marburger Vergangenheit die beiden Luther-Städte ebenso wie der – heute zu Recht umstrittene – Reformator.
Elisabeth von Thüringen, Martin Luther und Bodo ramelow sind Prominente, deren Namen in die Geschichte eingegangen sind oder es zumindest noch werden. Die vielen Beteiligten der Proteste am 16. und 17. Juni 1953 in der DDR hingegen bleiben weitgehend unbekannt. Trotz der Zerschlagung ihres Aufstands durch sowjetische Panzer waren sie aber dennoch Vorbild und Inspiration für die Protestierenden des „Unganr-Aufstands“ 1958, des „Prager Frühlings“ 1968 und schließlich der DDR-Bürgerbewegung, deren Anfänge lange vor 1989 liegen.
Mehr als eine Million Menschen in Ost-Berlin, Halle, Merseburg und an vielen anderen Orten der DDR protestierten am 16. und 17. Juni 1953 zunächst nur gegen die – vom SED-Zentralkomiteeverfügte – Heraufsetzung der Produktionsnormen, die einer faktischen Lohnkürzung gleichkam. Bald aber bereits forderten sie Demokratie und Menschlichkeit, drangen in Gefängnisse ein und befreiten Politische Gefangene. Am Ende war da auch der Ruf nach Wiedervereinigung.
Die härteste Folge der Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 war neben mehr als 50 Todesopfern und mehr als 1.500 Inhaftierten der daraufhin verstärkte Ausbau des Überwachungsstaats in der DDR. Die „Staatssicherheit“ (Stasi) bespitzelte die Bevölkerung dermaßen umfassend, dass sie zugleich zur vorübergehenden Rettung des angeblich „kommunistischen“ Systems wie letztlich auch zu dessen Niedergang beitrug. So war der 17. Juni 1953 einer der ersten Wendepunkte in der Geschichte der DDR.
70 Jahre danach versuchen Rechtspopulisten heute, di damalige Bürgerbewegung für sich zu vereinnahmen. Doch der – unbestreitbar immer notwendige – Kampf für Bürgerrechte und Demokratie muss immer bei der Forderung nach Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Pressefreiheit anfangen. Das ist dann nach der klugen Erkenntnis von Rosa Luxemburg „auch immer die Freiheit des Anderen“.
So unbestreitbar auch rechtspopulistische Positionen erst einmal geduldeter Bestandteil des demokratischen Diskurses sein müssen, so wenig ist die widerspruchslose Verbreitung von Antisemitismus, rassismus oder menschenverachtender Hetze sowie faktischen Lügenbehauptungen hinnehmbar. Gerade zu Zeiten des Kriegs in der Ukraine ist es für viele schwer zu ertragen, wenn das überfallene Volk von selbstgerechten Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegnern zu Verhandlungen mit einem Aggressor gedrängt wird, der sich an seine bisherigen Versprechen mehrmals nicht gehalten hat und dessen Soldateska in den überfallenen Gebieten übelste Verbrechen begeht.
Die Mweinungsfreiheit hat ihre Grenzen da, wo jemand die existenzielle Vernichtung von Menschen als angebliche „Meinung“ ausgibt. Die Legitimierung von Verbrechen ist letztlich auch ein Verbrechen. Darum ist auch die Leugnung der Shoa zu Recht strafbar.
Dem demokratischen Diskurs hilft die differenzierte Auseinandersetzung mit den moralischen Dilemmata, die die Menschheit leider schon seit vielen tausend Jahren begleiten. Dazu zählt auch der schmale Grat zwischen Meinungsfreiheit und Hetze sowie Realitätsblindheit und notwendiger politischer Utopie. Bei dieser Differenzierung mag auch der historische Blick auf den 17. Juni 1953 hilfreich sein.

* Franz-Josef Hanke

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