Geschichten oder Geschichte: Ausstellung „Stück für Stück“ eröffnet

Bewusstsein auf dem Weg der stadtmusealen Entwicklung schärfen möchte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. Großer Andrang herrschte schon bei der Eröffnung der Ausstellung „Stück für Stück“ im Rathaus.
Es sind die Erinnerungsstücke der Marburger Bevölkerung und neue Perspektiven, die diese Ausstellung zu etwas Ungewöhnlichem machen: Bislang liebevoll verwahrt oder auf dem Dachboden verborgen, stehen 35 Objekte von Bürgerinnen und Bürgern zur Stadtgeschichte nun im Mittelpunkt von „Stück für Stück“.
„Wir hoffen, mit der Ausstellung das Bewusstsein für die Marburger Geschichte zu schärfen“, erklärte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies vor über 100 Gästen bei der Eröffnung. Das gelte „für die Geschichte, die bereits erforscht ist, aber auch für die, die noch geschrieben werden muss“.
Was haben chinesische Figuren eigentlich mit Marburg zu tun? Und welche Geschichte(n) der Stadt erzählt wer mit dem Porzellan der einstigen Tiergarten-Gaststätte, dem Gong vom Gasthaus Hannes aus Weidenhausen, einem Schlosssouvenir, einem Foto vom Stadtteil Richtsberg oder mit dem Bierseidel aus Marburgs Traditionsbrauerei?
Bis Sonntag (23. April) können Gäste dienstags bis sonntags von 14 bis 18 Uhr im Ausstellungssaal des Rathauses nicht nur das herausfinden. Der Eintritt ist frei. Das Besondere von „Stück für Stück“ ist jedoch, dass die Marburgerinnen und Marburger selbst ihre Erinnerungsobjekte auf Einladung der Stadt beigesteuert haben.
Die Originale sind in der neuen Ausstellung zu sehen. Dort erklären die Bürgerinnen und Bürger in Video- und Audioaufnahmen zudem persönlich, was ihren Gegenstand für sie zu einem „Stück Marburg“ macht, warum er in ein Museum von Morgen gehört.
„Stück für Stück“ erzählt Stadtgeschichte damit bewusst von „Mensch zu Mensch“. Die Ausstellung setzt auf Perspektivwechsel und Beteiligung. Die Bevölkerung mit ihren Alltagsgegenständen und Geschichten steht im Zentrum und kommt zu Wort.
Dabei gelingt es der städtischen Ausstellung im Rathaus, behutsam den Impulsen der Bürgerinnen und Bürger zu folgen und die Erinnerungen zugleich mit Wortbeiträgen und Bildern zeitgeschichtlich zu rahmen sowie zum Nachdenken anzuregen. Die elf Stationen „Verblendung“ zum Kolonialismus, „Über Weidenhausen hinaus“ mit Marburgs Tor zur Welt, „Geselligkeit und Gesellschaft“, „Schlossansichten“, „Vom Pilgrimstein zum Biegen“, „Studi-Leben“, „Synagoge – Jüdisches Leben“, „Notunterkunft am Krekel“, „Richtsberg – Buntes Quartier“, eine „Meinungs-Tauschbörse“ und das „Stadtlabor“ zum Mitmachen bieten Raum für Rückblicke auf legendäre Sommerkonzerte oder Unisommerfeste – und auch der Original-Pappmaché-Kopf vom Städteturnier „Spiel ohne Grenzen“ der 70er Jahre fehlt im Rathaus nicht.
Aber vor allem sind überraschende, unbekannte Exponate zu sehen, die trotzdem Erinnerungen wecken. Anregungen für den kritischen Blick zurück sind ebenso Bestandteil wie Stimmen, die sonst wenig gehört werden, oder Menschen, die bisher seltener gesehen wurden.
„Es ist ein Ausstellungskonzept, das den modernen Erfordernissen von Musealität, Digitalität, Pädagogik und Beteiligung entspricht. Und das Marburg in seiner stadtgeschichtlichen Vielfalt widerspiegelt“, betonte Oberbürgermeister Spies zum Auftakt. Und das sei von höchster stadtgesellschaftlicher Bedeutung. Denn „Stück für Stück“ gestalte damit auch den Weg der stadtmusealen Entwicklung diesmal aus dem „einzigartigen Blickwinkel der Marburger Bürger*innen erzählt – anhand ihrer Alltagsobjekte, ihrer Gedanken und Erinnerungen“, dankte er als Kulturdezernent den Leihgebenden.
„Die historische Ausstellung gibt uns und unseren Gästen auf außergewöhnliche Art und Weise die Gelegenheit, über Zeitgeschichte, unsere Gesellschaft und über unsere eigene Rolle darin nachzudenken“,
. „Zugleich können wir neue Perspektiven daraus entwickeln.“, erklärte Spies. Denn er sei überzeugt von dem, was Friedenspreisträgerin Aleida Assmann unlängst sagte, dass die Zukunft mit dem Erinnern beginnt.
„Wer die 35 Objekte entdecken will, ist also zugleich willkommen, über Wege und neue Perspektiven der Erinnerungskultur nachzudenken“, sagte Ruth Fischer vom Fachdienst Kultur der Stadt Marburg. Die Fachdienstleiterin ist eine der Konzeptgeberinnen der Ausstellung.
„Stück für Stück“ habe Werkstattcharakter – und folgt mit seinen Zielen einem Beschluss des Stadtparlaments. Die Stadtverordnetenversammlung (StVV) spricht sich ausdrücklich dafür aus, ein künftiges Museumskonzept nicht allein auf bekannte zeitgeschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten zu reduzieren.
Ende 2022 hatte die Stadt alle Marburgerinnen und Marburger zum Mitmachen eingeladen. Rund 30 Bürgerinnen und Bürger brachten sich mit ihren Erinnerungsstücken ein. Auch Oberbürgermeister, Bürgermeisterin und Stadträtin sprechen „Stück für Stück“ über ihre persönlichen Marburg-Erinnerungen.
Gleich den Einstieg bildet ein kurioses Objekt: Ein Taxi-Funkbuch von 1962 lädt mit minutiöser Auflistung der Fahrten ein, nächtliche Touren zwischen vergessenen Orten nachzuvollziehen, die wie das „Deutsche Eck“ und den „Berggarten Marbach“ längst verschwunden sind.
Aber auch soziale, demografische oder politische Gegebenheiten in der Stadt spiegeln sich in Erinnerungen wider, ob in der Schublade mit Buttons oder mit der Verbindungsmütze, ob mit Plakaten oder einem Biegeneck-Film. Gleich mehrere Exponate von der Werksjacke bis zur letzten Bierkiste haben die Marburger*innen zur Brauereigeschichte eingereicht. „Draußen stank es immer, aber drinnen roch´s ganz gut“, erinnerte sich eine der Leihgeber an den Schulweg entlang des Pilgrimsteins noch ganz genau.
Doch auch weniger bekannte Orte, sind vertreten – wie der Tiergarten mit Affen und Löwen, der sich in den 30er Jahren östlich von Weidenhausen genau dort erstreckt, wo heute die Autobahn verläuft. Während hier das alte Originalgeschirr der Gaststätte in den Mittelpunkt der Ausstellung rückt, ist vom Gasthof Hannes in Weidenhausen noch der Gong des prominenten Stammtisches „Käsebrod“ erhalten.
Neben verschwundenen Orten lernen Gäste die Lebensgeschichte von Ilse Flachsmann kennen. Sie ist eine der wenigen Jüdinnen, die sich nach ihrer Deportation und KZ entschied, nach Marburg zurückzukehren. Wie ein Bleistiftspitzer zu Erinnerungen an diese Marburgerin führt? Nicht nur das kann beim Besuch im Rathaus erkundet werden.
Mit einem selbstgemachten Stich und Souvenirs von Flohmärkten geht es auch um Marburgs bekanntesten Exportartikel. Dabei dreht es sich um das Schloss. Seit dem 17. Jahrhundert halten die Menschen die wunderbare Ansicht immer wieder fest.
Aber auch der Richtsberg als einer der jüngsten und multikulturellsten Stadtteile, Marburgs Mitte oder der Rückblick auf die einstige Notunterkunft, die Siedlung Am Krekel sind bei „Stück für Stück“ vertreten. Über zwei Objekte aus dem frühen 20. Jahrhundert befasst sich die Ausstellung darüber hinaus mit dem Boxeraufstand in China und dem Völkermord an den Herero, bei denen auch Marburger Soldaten eingesetzt wurden. Puppe und Porzellanfigur sind wohl als Mitbringsel nach Marburg gekommen.
Heute erinnern sie daran, dass Kolonialismus nicht etwa nur von großen Städten ausging. „Wie und was wollen wir erinnern? Wer redet über Geschichte?“ Ausgehend von diesen Fragen haben Ruth Fischer, Julia Brandt, und Lisa Bingenheimer „Stück für Stück“ das Konzept entwickelt.
Das Projekt haben sie im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Schutz Europäischer Kulturgüter“ an der Europa-Universität „Viadrina“ in Frankfurt an der Oder auf den Weg gebracht. Alle drei arbeiten hauptberuflich in der Kulturverwaltung: Fischer ist Leiterin des Fachdiensts Kultur der Stadt, die jetzt zur Ausstellung ins Rathaus einlädt.
Ihre Kommilitoninnen sind in Denkmalfachämtern beschäftigt. Für die Umsetzung in Marburg zeichnete sich ein Team um Rebekka Gilbert und Monika Bunk verantwortlich.
Das Ausstellungskonzept, bei dem es nicht um Vollständigkeit geht, wurde in enger Abstimmung mit einem Kuratorium entwickelt. Die Stadtteilsozialarbeit, die Deutsche Blindenstudienanstalt (BliStA), die universitären Sammlungen, der Behindertenbeirat, Altenplanung, Sozialplanung, Ausländerbeirat, Kinder-
und Jugendparlament (KiJuPa) sowie das Unimuseum brachten Wissen und Erfahrung ein.

* pm: Stadt Marburg

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