„Mit Worten lässt sich nichts über die Liebe sagen“, heißt es in „Der Herzerlfresser“. Und doch wird über eineinhalb Stunden verteilt mit großen und mit kleinen Worten so viel über die Liebe gesagt, dass am Ende kein Herz unberührt bleibt.
Die Inszenierung des Hessischen Landestheaters Marburg (HLTM) feierte am Samstag (27. November) im Kleinen Tasch Premiere. Das Stück stammt vom österreichischen Autor Ferdinand Schmalz und Regie führte Maxime Mourot.
Bei einer Einführung erklärte Dramaturgin Petra Thöring, dass Schmalz bei einer Zugfahrt von einem anderen Fahrgast eine wahre Geschichte von einem Mordfall in der Steiermark erzählt bekommen hatte. Im späten neunzehnten Jahrhundert wurde eine Dienstmagd ermordet aufgefunden, das Herz war entwendet. Von diesem „Herzerlfresser“ hatte sich Schmalz inspirieren lassen und die Handlung in die heutige Zeit verlegt: Unter einem neugebauten Einkaufszentrum findet man eine Frauenleiche. Ohne Herz.
Schon bei Betreten des Saales scheint die Handlung im Gange zu sein. Während die Theaterbesucher sich noch auf ihren Plätzen einfinden, stehen die Schauspieler schon auf – oder vielmehr in – der Bühne. Sie ist wie ein langer Kasten aufgebaut, der mit Schaumstofffetzen gefüllt ist, durch die die Charaktere später waden müssen. Alle tragen sie weiße oder beige Kostüme und sind blass geschminkt.
Dann geht das rote Licht, das zuvor den Raum erhellte, aus, es wird still, zwei der Charaktere regen sich. Die unglücklich verliebte „Florentina“ – gespielt von Fanny Holzer – schüttet ihrem Freund „Gangsterer Andi“ ihr Herz aus. Gespielt wird er von Georg Santner. Zum Thema wird auch der neue Gewerbepark, der auf dem Sumpf gebaut worden ist, das Moorwasser trete jetzt schon aus den neuen Fundamenten hervor.
Nach und nach erwachen auch die anderen Charaktere zum Leben. Da ist zum Beispiel „Fußpflegeirene“ – gespielt von Lisa Grosche – die das Schicksal an den Füßen ablesen kann. Der Bürgermeister „Acker Rudi“, denkt gerne „global“, obwohl er auf dem Dorf lebt, und kümmert sich vor allem um die bevorstehende Wahl und das neugebaute Einkaufszentrum. Als letztes stößt der Unbekannte „Pfeil Herbert“ – verkörpert von Eike Mathis Hackmann – zum Geschehen, der Florentina versucht das Herz zu verdrehen.
Nach anfänglichen Dialogen scheint es dann auch endlich mal loszugehen: Gangsterer findet eine Leiche ohne Herz. Der Bürgermeister – gespielt von Sven Brormann – und er lassen sie allerdings schnell im Moor verschwinden, die Eröffnung des Einkaufszentrums soll von dem Mord nicht überschattet werden. Gangsterer soll undercover ermitteln, aber das Publikum merkt schnell, dass es sich bei diesem Stück nicht, wie vielleicht erwartet, um die Lösung eines Mordfalls handelt.
Im Laufe des Stücks rückt die Handlung immer weiter in den Hintergrund, vielmehr geht es um die Gefühle, das Leben, die Herzen der Charaktere. Bis sich jedoch irgendwann alles wieder zuspitzt, in einer Szene, in der man gar nicht weiß, wo man am Ehesten hinschauen sollte.
Wie bei einem Unfall kann man bei einigen Szenen gar nicht wegsehen, obwohl man das Gefühl bekommt, nicht hinstarren – und auch nicht zuhören – zu wollen. Die Gespräche, die einige der Charaktere führen, sind so privat, so persönlich, als ob sie einem direkt aus dem Herzen sprechen. Dabei werden ganz allgemeingültige Emotionen so wunderbar aufgearbeitet, dass sich ein jeder damit identifizieren und darin wiederfinden kann.
„Mein Herz ist mir ganz fremd“, sagt zum Beispiel Florentina. „Über alles im Leben hat man eben eine Gewalt, außer seinem Herz“, lautet die Antwort. Auch sagt Irene: „Auch wenn wir uns in unsere Lebensformen quälen, dürfen wir nicht vergessen, dass es nur Möglichkeiten sind.“
So reihen sich dem Anschein nach lauter Postkartensprüche und Ratgeberweisheiten aneinander. Dabei wird es allerdings nie kitschig, oder klischeehaft. Jeder Satz scheint einem wichtig, und auch wenn man einige dieser „Weisheiten“ schon einmal gehört hat, erscheinen sie einem im Kontext von Schmalz‘ Stück tiefenphilosophisch und sprechen einem regelrecht aus dem Herzen.
Langeweile verspürt man dabei keine. Auch wenn der Dialog im Vordergrund steht – die Sprache, mit der das Stück aufbereitet ist, macht das Zuhören zur wahren Freude. Mit Poesie, Rhythmus und vor allem viel Wortspiel und Witz begeisterte das Stück wortgewandt die Zuschauenden, die während der Vorstellung viel lachten und merklich mit der Handlung mitgingen.
Zum Wachbleiben wurde man zwischenzeitlich geradezu gezwungen. Effekte, Schreie, oder der ein oder andere Knall weckte selbst den müdesten Zuschauer wieder auf. Auch die Musik und Tonebenen, mit der die Inszenierung arbeitet, hielten einen involviert, wenn auch manchmal fast unfreiwillig. Zum Beispiel durch gruselige atmosphärische Klänge oder Stimmverzerrungen mochte einem das Herz fast schon in die Hose rutschen.
Auch mit räumlichen Dimensionen arbeitet die Inszenierung sichtbar. Die Bühne fühlt sich durch ihre eingemauerte Form zuerst wie ein Schaukasten an, doch im Laufe des Stücks treten die Charaktere aus ihr hervor, stehen direkt vor oder sogar im Publikum. Durch diese räumliche Nähe und durch zwischenzeitliches Anleuchten des Publikums, bei dem sehr intensiver Augenkontakt zu den Darstellern aufgebaut werden konnte, fühlte man sich als Teil des Geschehens.
Das wurde dadurch verstärkt, dass das Publikum in einer Szene die Rolle der Kundschaft bei der Eröffnung des Einkaufszentrums übernahm. Durch Mourots Arbeit mit Räumlichkeit entfaltet sich das Stück so in direkter Verbindung mit dem Zuschauerraum.
Erwähnenswert sind zudem die außerordentlichen Kostüme von Kati Stubbe. Die weißen und beigen Kostüme verbergen knallrote Kleidungsstücke, die wie nach dem Abziehen einer Hautschicht zum Vorschein kommen. Sie stehen so kontrastreich zum restlichen Kostüm und zum Bühnenbild, dass sie wie große Geheimnisse wirken, die mit einem Mal ans Licht gelangen.
Besonders die schauspielerischen Leistungen stachen bei dieser Inszenierung heraus. Alle fünf Darsteller spielten so großartig, dass es unmöglich erscheint, eine beste Performance zu küren. Ihnen gelang es, den Zuschauenden den Stoff so nah wie nur irgend möglich zu bringen, sodass man alle Charaktere, trotz ihrer Fehler und Eigenarten, sofort ins Herz schloss.
Mourots Inszenierung von „Der Herzerlfresser“ schafft es durch ein harmonisches Zusammenspiel von Bühne, Kostüm, Licht, Ton und Darstellern ein Stück zu kreieren, dass den Zuschauenden ans Herz, aber auch an den Rest des „Herbert-Körpers“ geht. Sicherlich wird „Der Herzerlfresser“ die Herzen der Marburgerinnen und Marburger im Sturm erobern, einen Besuch kann man jedenfalls nur ans Herz legen.
*Laura Schiller