Die Gedenkinstallation für die Opfer der Marburger Jäger wurde festlich übergeben. Unter dem Titel „Verblendung“‚ erinnert sie im Herzen der Stadt an Opfer des Militarismus.
Die Kunstinstallation „Verblendung“ von Heiko Hünnerkopf setzt im Schülerpark einen Kontrapunkt zum Denkmal der Marburger Jäger. „Verblendung“ soll deutlich sichtbar sein und so zur Auseinandersetzung mit der Geschichte anregen. Die Stadt im Schülerpark hat das Denkmal nun feierlich der Stadtgesellschaft übergeben.
Angestrahlt und geschmückt steht das Kunstwerk „Verblendung“ im Schülerpark, leuchtet in der Abendsonne und der roten Beleuchtung. Vögel zwitschern und immer mehr Stimmen füllen den Park. Mehr als 100 Marburger*innen sind gekommen, um die Eröffnung der Kunstinstallation im Gedenken an die Opfer der Marburger Jäger zu feiern, um der Opfer zu gedenken und, um am Weltfriedenstag ein Zeichen für Frieden und gegen Militarismus zu setzen.
Viele Beteiligte berichten vom Entstehungsprozess, Vertreterinnen der Opfer senden Grußbotschaften, Musik und die Hörtheatrale setzen einen eindrücklichen Rahmen.
„Geschichte kann man nicht vernichten. Stattdessen muss man sie reflektieren und sich kritisch mit ihr auseinandersetzen“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zur Begrüßung am Mittwoch (1. September). „Wir wollen Geschichte auch nicht verdrängen. Wir wollen sie neu beleuchten und uns so verpflichten, sie nicht zu wiederholen“, mahnte er.
„Die heutige Zeremonie ist eine sehr positive Entwicklung und kann internationales Verständnis, insbesondere für die Opfer der Marburger Jäger schaffen“, ließ Dr. Olga Kamoruao ihren Gruß verlesen. Sie ist Vertreterin der Herero und Nama, die in Namibia Opfer des Marburger Jägerbataillons wurden. Ihr Volk fühle sich geehrt, sende sein Wohlwollen und hoffe, weiterhin mit den Bürger*innen und dem Oberbürgermeister „dieser großartigen Stadt“ zusammenarbeiten zu können.
Im Namen des Königreichs Belgien sandte die stellvertretende Botschafterin Valentine Mangez eine Videobotschaft. „Am 23. August 1914 richteten die deutschen Truppen in Dinant willkürlich ein Zehntel der Bevölkerung hin, 674 unschuldige Zivilisten“, erklärte Mangez.
Die Gedenkinstallation sei ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie eine Stadt selbst die dunkelsten Seiten ihrer Vergangenheit aufarbeiten könne, wenn Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Politik zusammenarbeiten. „Momente wie dieser sind von unschätzbarem Wert für die Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland“, betonte sie.
Der Landtagsabgeordnete Jan Schalauske und Ralf Schrader vom Marburger Bündnis „Nein zum Krieg“ sprachen für die Initiator*innen der Gedenkinstallation. Einblicke in den intensiven Erinnerungsprozess bis hin zur Entstehung der „Verblendung“ gaben Elisabeth Auernheimer, Dr. Maximiliane Jäger-Gogoll und Dr. Harald Klimpel.
„Mit der Gedenkinstallation tritt das Leid, das durch die Marburger Jäger verursacht wurde, in den Vordergrund; das falsche Heldengedenken tritt in den Hintergrund“, sagte Schalauske. „Marburg gibt den Opfern des militaristischen Wahns einen Namen“, stellte Schrader heraus.
Der Künstler Heiko Hünnerkopf dankte der Stadt und der Stadtgesellschaft für den beispielshaften Prozess bis zur Umsetzung von „Verblendung“. Er habe in Marburg große Wertschätzung gegenüber aller Künstler*innen erfahren, die sich am Wettbewerb zur Gestaltung der Gedenkinstallation beteiligt hatten: „Mein Dank an Marburg, an die Verwaltung, an die Bürgerinnen und Bürger für die Unterstützung und vor allem für den Mut zur Umsetzung!“
Mit einer Schweigeminute gedachten die Anwesenden dann der Opfer des Hessische Jägerbataillons aus Marburg, schmückten die Gedenkinstallation mit den bereitstehenden weißen Rosen und besahen sich die „Verblendung“ und die kleinen Täfelchen, die im Inneren der Installation über die Taten der Marburger Jäger informierten.
Umrahmt wurde der festliche Teil von Stefan Hülsermann mit der Klarinette und abgeschlossen von einem Live-Hörspiel der Hörtheatrale. Sie nahm das Publikum eindrücklich mit in den „Krieg“ – nach dem Roman von Ludwig Renn und mit Texten zu den Marburger Jägern.
Das Jägerdenkmal von 1923 ist eine gewaltige Säule in einem Marburger Park. Die „Verblendung“ von Künstler Heiko Hünnerkopf aus Wertheim hält Abstand, lässt das eigentliche Denkmal physisch unberührt – greift aber optisch ein: Winkelprofile sind in zwei Halbkreisen vor der Säule installiert.
Je nach Blickwinkel verblenden sie das Jägerdenkmal teilweise oder sogar komplett. An den Winkelprofilen sind Erinnerungstafeln angebracht. Sie informieren über die Opfer des Hessischen Jägerbataillons Nr. 11 und umfassen fünf Themen.
Dabei handelt es sich um den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 mit Niederschlagung der Pariser Kommune; die Kolonialkriege in China 1900/1901 mit Niederschlagung des Boxeraufstands; Einsätze in Südwestafrika von 1904 bis 1907 mit der Ermordung der Herero und Nama in Namibia. 1914 war die Einheit an Kriegsverbrechen in Dinant in Belgien beteiligt und 1919 am Massaker an Arbeitern in Königshütte in Polen.
Den Titel „Verblendung“ meint Künstler Hünnerkopf durchaus doppeldeutig: Einerseits bezeichnet es die optische (Teil)Verblendung und andererseits die ideologische Verblendung der Marburger Jäger als angesehene Akteure der Stadtgesellschaft in einem militaristischen Kaiserreich.
Der Umgang mit der Geschichte der Marburger Jäger bis hin zur heutigen Gedenkinstallation war ein langer, diskursiver und vorbildlicher Erinnerungsprozess der Stadtgesellschaft. Bereits Anfang des vergangenen Jahrzehnts begann die Aufarbeitung der Geschichte: Angestoßen wurde der Prozess dadurch, dass 2011 in einem Marburger Stadtteil privat ein weiteres und sehr umstrittenes Denkmal für die Marburger Jäger errichtet wurde.
Diese Nachricht drang bis Namibia. Stammesoberhäupter der Herero und Nama schickten Protestbriefe nach Marburg, die deren Vertreterin Dr. Olga Kamoruao an den damaligen Oberbürgermeister Egon Vaupel übergab.
Im Auftrag des Stadtparlaments hat die Marburger Geschichtswerkstatt eine Studie zur Geschichte der Marburger Jäger erarbeitet, die 2013 im Rathaus-Verlag veröffentlicht wurde. 2016 folgte der politische Beschluss, dem Gedenken an die Opfer „einen sichtbaren, materiell fassbaren, künstlerischen Ausdruck“ zu geben. Die Stadt hat daraufhin einen internationalen Wettbewerb ausgeschrieben.
Bis zum Bewerbungsschluss im Dezember 2017 waren 55 Bewerbungen aus Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich und Namibia eingegangen. Eine neunköpfige Jury traf eine Vorauswahl.
Acht Künstlerinnen und Künstler stellten dann ihre Entwürfe persönlich vor. Am meisten überzeugt hat schließlich die Konzeption von Heiko Hünnerkopf, die nun im Schülerpark umgesetzt ist.
* pm: Stadt Marburg