Der Geruch von Öl sticht in die Nase. Das Knattern eines Zweitakters erinnert das Ohr an Kindertage.
Auf der Weidenhäuser Brücke stauen sich die Autos der Marken „Wartburg“ und „Trabant“. Auch ein Bus der Marke „Ikarus“ steht in der Schlange. Dazwischen fahren auch einige wenige West-Autos auf den Rudolphsplatz zu.
Ähnliche Erinnerungen verbinde ich mit den Wochenenden nach meiner Entlassung aus dem Diakonie-Krankenhaus. Dort wurde mir im November 1989 der Blinddarm entfernt. Im Krankenzimmer verfolgte ich mit einem Mitpatienten am Fernseher und am Radio die spannende Entwicklung seit dem Mauerfall am 9. November 1989.
„Die Pappe“ nannten die Leute aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) den „Trabbi“ liebevoll. Ähnliche Autos kannte ich aus meiner Kindheit, wo dergleichen auch im Westen gebaut wurde. Mein Onkel Theo besaß so einen Lloyd 500 mit Zweitaktmotor, der wegen seiner Bauweise im Westen damals „Leukoplast-Bomber“ hieß.
Die Wagen von Wartburg kannte ich seit meinem ersten Besuch in der DDR, den ich einige Monate vor dem Mauerfall der Marburger Partnerstadt Eisenach abgestattet hatte. Dort hatten wir die Umweltbibliothek besucht, die unter dem dach der Evangelischen Kirche entstanden war. Dort hörte ich das Knattern der Zweitakter und roch den Gestank ihrer Abgase.
Eisenach erinnerte mich damals auch an meine Kindheit: Das Straßenpflaster war holprig und mit Löchern übersät. In eingen schillerte das stinkende Öl aus den Autos, während die Luftt vom Geruch verheizter Braunkohle erfüllt war.
Mauerfall und Grenzöffnung kamen für mich überraschend. Doch klar war längst, dass es mit dieser DDR so nicht weitergehen konnte. Das wusste ich spätestens seit der Ausweisung des opositionellen Liedermachers Wolf Biermann, den ich am Vormittag nach einem Konzert Mitte der 80er Jahre durch die Marburger Oberstadt führte.
Lange musste ich jedoch überlegen, bis mir der 3. Oktober 1990 wieder klar vor meinem „Inneren Auge“ stand. Mit wem ich an diesem Tag von der Weidenhäuser Straße aus zum Rudolphsplatz ging, weiß ich nicht mehr. Aber die knatternde Autoschlange und der Ölgeruch der Ost-Autos sowie der in Ungarn hergestellte Reisebus des „VEB Kraftverkehr Eisenach“ waren mein „Bild“ vom ersten „Tag der Deutschen Einheit“ am 3. Oktober 1990.
Im Rathaus wurde gefeiert. Wenige wussten damals schon, dass es für die „Ossis“ wenig zu feiern gab. Ab sofort kriegten sie kein „Begrüßungsgeld“ mehr, sondern mussten alle Preise in D-Mark bezahlen.
Die schönen bunten Waren in den Regalen mussten sie außerdem noch mit Jobverlust und Bevormundung bezahlen. Ein ganzes Land war über Nacht einfach ausgelöscht wurden. Seine Bevölkerung musste nun neue Regeln befolgen, die es weder kannte, noch selber jemals beschlossen hatte.
Die Stadt Marburg half ihrer Partnerstadt Eisenach, wo es ging. Allerdings waren die geschenkten Gelenkbusse der Stadtwerke Marburg (SWM) bereits stolze 17 Jahre alt, als sie dem Verkehrsbetrieb in der Partnerstadt überalssen wurd.en.
Sicherlich habe auch ich vieles „von oben herab“ gesehen, was die Menschen aus den „Neuen Bundesländern“ betraf. Im Podcast „Lagebesprech“ 110 habe ich am Mittwoch (30. September) darüber ausführlich mit dem Journalisten Jens Bertrams und dem Physiker und Humanbiologen Dr. Eckart Fuchs gesprochen. Dort haben wir auch diskutiert, was bei der Wiedervereinigung schiefgelaufen ist und was uns deshalb heute im Osten deutschlands in Form rechtspopulistischer Parolen und Taten auf die Füße fällt.
Die Arroganz des Westens – ganz verkürzt global gesagt – war der schlimmste Fehler. Angesichts meiner Erfahrungen vom besuch der Umweltbibliothek in Eisenach war ich in diesem Punkt – hoffentlich – etwas sensibler. Aber auch meine anfängliche Freude über die Wiedervereinigung und die neu gewonnene Freiheit der Menschen in der einstigen DDR verflog allmählich im alltäglichen Trott des Kampfes um das eigene Wohlergehen und meine eigenen Rechte als Behinderter.
* Franz-Josef Hanke
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