Behandlungserfolg: Krebsmedikament hilft auch gegen Folgen des Coronavirus

Ein Behandlungserfolg der Marburger Hochschulmedizin weckt die Hoffnung auf ein Heilmittel gegen COVID-19: Das Team hat das Krebsmedikament „Ruxolitinib“ erstmals erfolgreich zur Heilung einer Patientin eingesetzt.
Nach einer Infektion mit dem Coronavirus „SARS-CoV-2“ litt sie an akutem Lungenversagen (ARDS). Der Krebsmediziner Prof. Dr. Andreas Neubauer und seine Kolleginnen und Kollegen berichten in der Fachzeitschrift „Leukemia“ über den Behandlungserfolg. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte genehmigte mittlerweile eine klinische Studie, in der die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Einsatz von Ruxolitinib gegen COVID-19-assoziiertes Lungenversagen weiter untersuchen wollen.
Auch wenn das grassierende Coronavirus SARS-CoV-2 meist nur milde Atembeschwerden hervorruft, so verläuft die COVID-19-Erkrankung doch bei etwa fünf Prozent der Betroffenen so schwer, dass es zu einem Lungenversagen kommen kann. „Die Sterblichkeit ist in diesen Fällen hoch“, erklärte Dr. Thomas Wiesmann, der die Patientin gemeinsam mit dem Team der Intensivstation in der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie des Universitätsklinikums Marburg betreute.
Die Patientin ist eine 65-jährige Frau ohne Vorerkrankungen, die wegen fortschreitender Atemnot und Fieber eingeliefert wurde. Ihre Atemnot verschlimmerte sich rapide, so dass sie drei Stunden nach der Einlieferung intubiert werden musste, um künstlich beatmet zu werden.
Ein molekulargenetischer Standardtest bestätigte, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 vorlag. Die Gesamtprognose der Patientin wurde aufgrund weiterer Organschädigungen als sehr schlecht eingeschätzt.
„Aus chinesischen Publikationen wussten wir, dass die Patienten mit einem schweren und sogar tödlichen Verlauf durch einen sogenannten Zytokinsturm charakterisiert sind“, berichtete Neubauer. „Dabei handelt es sich um eine Überschwemmung des Körpers mit Substanzen, die das Immunsystem stimulieren.“ Diese Überreaktion der körpereigenen Abwehr schädigt das Gewebe – umso leichter verbreitet sich das eingedrungene Virus.
Neubauer vermutete, dass die Betroffene auf das Medikament Ruxolitinib ansprechen könnte, das ursprünglich aus der Krebstherapie stammt: Das Mittel hemmt Enzyme im Körper, die an überschießenden Entzündungsreaktionen beteiligt sind. „Wir haben die behandelnden Kollegen darauf hingewiesen, dass das Krebsmittel vielleicht die lebensbedrohlichen Effekte abwenden könnte, die eine entzündliche Schädigung des Lungengewebes mit sich bringt“, sagt der Krebsspezialist.
„Wir standen vor einer schweren Entscheidung“, ergänzt Prof. Dr. Hinnerk Wulf, Direktor der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie: „Denn ob die Theorie auch in der Praxis funktioniert, war ungewiss; mit der versuchsweisen Behandlung war eben auch ein Risiko verbunden.“ Tatsächlich besserte sich der Zustand der Marburger Patientin, nachdem ihr Ruxolitinib verabreicht worden war: Das Behandlungsteam konstatierte eine klinische Stabilisierung sowie eine rasche Verbesserung von Atmung und Herzfunktion.
„Dieser Verlauf war im Vergleich zu dem anderer Betroffener bemerkenswert“, hebt Wiesmann hervor. Vom zehnten Tag ihres Klinikaufenthalts an konnte die Patientin schrittweise vom Beatmungsgerät entwöhnt werden. Auch die Virusvermehrung war während der Verabreichung des Krebsmedikaments herabgesetzt.
Offenbar handelt es sich bei dem Behandlungserfolg nicht um einen Einzelfall: Das Marburger Team verabreichte das Krebsmedikament noch mehreren anderen Patienten, um den schweren Krankheitsverlauf bei ihnen in den Griff zu bekommen. „Bei allen, denen das Mittel länger als eine Woche verabreicht worden ist, ist es am Ende gut geworden“, erklärt Neubauer. Auch ein Team um Prof. Dr. Paul Graf La Rosée vom Schwarzwald-Baar-Klinikum berichtet vom erfolgreichen Einsatz des Hemmstoffs, wenn auch bei minder schweren Fällen.
„Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Beginn der Ruxolitinib-Gabe und der gesundheitlichen Besserung ist so eng, dass die Vermutung naheliegt, die Hemmung könne zu dem günstigen klinischen Verlauf beigetragen haben“, legt Neubauer dar. Aufgrund der Behandlungserfolge genehmigte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine klinische Studie, in der die Wirkung einer Ruxolitinib-Verabreichung bei weiteren COVID-19-Patientinnen und -Patienten wissenschaftlich überprüft werden soll.
Neubauer lehrt Hämatologie und Onkologie an der Philipps-Universität Marburg. Seit dem Jahr 2009 leitet er das Carreras-Leukämie-Center am Universitätsklinikum Marburg.
Neben seiner Arbeitsgruppe und der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie beteiligten sich zahlreiche weitere Marburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Fachveröffentlichung, unter anderem aus der Klinik für Innere Medizin, aus den Instituten für Laboratoriumsmedizin sowie für Virologie und aus der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie; auch die Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin des Klinikums Kassel wirkte an der Publikation mit. Die Deutsche José Carreras Leukämie-Stiftung unterstützte die Forschungsarbeiten finanziell.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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