Hotel Chelsea: Wo flüsternde Wände blank liegen

“ … [es ist] ein Sog – ein artistischer Tornado des Todes und der Zerstörung und der Liebe und zerbrochener Träume.“

So soll einst Sex Pistols Bassist und Punkrock Ikone Sid Vicious eines der legendärsten Gebäude im Künstlerviertel Manhattans beschrieben haben. Dieses Haus ging aufgrund seiner zahlreichen berühmt -berüchtigten Bewohner in den vergangenen 50 Jahren als „Künstlerhotel“ in die Geschichte ein:

Das Hotel Chelsea

Während meines einjährigen Aufenthaltes in der Stadt, die niemals schläft, zog es auch mich wie auf magische Art und Weise bei vielen meiner zahlreichen Spaziergänge durch die endlos langen Straßen Manhattans immer wieder zur 222 West 23rd Street. Dort ragt das 12-stöckige Hotel, das zur Zeit seiner Erbauung als das höchste Gebäude New York Citys galt, in die Höhe. Mit seinen wundervollen gusseisernen und mit Blumen ornamentierten Balkonen scheint es noch immer eine unerklärliche Anziehung auszustrahlen.

Sein Erscheinen und die zahlreichen Mythen, die das Hotel Chelsea umgeben, veranlasste mich dazu, mir das Gebäude und seine Geschichte etwas genauer anzusehen:

Das Gebäude wurde erbaut zwischen 1883 und 1885 in einer Kombination aus dem sogenannten „Queen Anne Revival“ und dem „Neugotik“ – Stil und war Teil eines Projekts der „Hubert, Pirrson & Company“, betitelt „Hubert Home Clubs“. Philip Hubert war aufgewachsen in einer Familie äußerst angetan von den Theorien des französischen Philosophen Charles Fourier. Daher wollte er den Bewohnern seiner Gebäude beruhend auf diesen Theorien eine Gemeinschaft engen Zusammenhaltes, Vertrauens und gegenseitiger Unterstützung bieten. Die den „Hubert Home Clubs“ zugehörigen Immobilien galten so als einige der ersten Apartmentkomplexe New York Citys.

Nachdem der Umzug des Theaterviertels innerhalb Manhattans dazu geführt hatte, dass der Besitzer des Komplexes bankrott ging, verwendete man das Gebäude im Jahre 1905 erstmals als Hotel.

Im Jahre 1939 erwarben Joseph Gross, Julius Krauss und David Bard dieses.

Die Verwaltung der Anlage fiel daraufhin im Jahre 1964 dem Sohn des Letzteren, Stanley Bard, in die Hände. Unter dessen Leitung wurde das Hotel zu jenem von Mythen umwobenen Ort, als den man es heute kennt.

Stanley Bard arbeitete erstmals im Jahre 1957 in dem Gebäude, das mit seiner Hilfe zum Rückzugs- und Schaffensort zahlreicher Künstler werden sollte. Als großer Freund der Künste und der Menschen, die ihr Leben diesen gewidmet hatten, bot er vielen jener ein Zuhause, in welchem sie sich geborgen und unter ihres gleichen wissen konnten. Dabei mussten sie sich auch um eventuelle Rückstände von Zahlungen nicht sorgen. Bard war bekannt dafür, an Stelle richtigen Geldes auch Kunstwerke zu akzeptieren. Diese stellte er in der großen Lobby und an den Wänden der zahlreichen Flure und der berühmten riesigen Treppe zur Schau. Ein Langzeitbewohner beschrieb ihn einst als den „meist geliebten – und rätselhaftesten – Charakter, der je die Flure des Chelsea durchstreift hat.“

Viele kreativ Schaffende zogen daher in das Hotel und sie verließen es oft für mehrere Jahre nicht. Das brachte Bard unter anderem den Spitznamen „landlord daddy for artist“ einbrachte, was übersetzt so viel bedeutet wie „Ein eine Vaterfigur einnehmender Vermieter für Künstler“.

Um einen besseren Einblick in das Leben im Hotel Chelsea unter der Leitung von Stanley Bard und für diesen selbst zu bekommen, sprach ich mit Personen, die zu seiner Zeit dort lebten und/oder das Chelsea noch heute ihr Zuhause nennen. Sie alle bestätigten mir: Stanley Bard hatte zu jedem seiner Hotelgäste ein sehr persönliches Verhältnis. Von vielen wird er auch als „der Robin Hood“ des Hotels bezeichnet, und selbst der Vergleich zu „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ wurde in der Vergangenheit gezogen. So soll Bard zu den meisten der Bewohner sehr freundlich gewesen sein und seine volle Unterstützung geboten haben.

Jim Georgiou, ein ehemaliger Bewohner, mit dem ich sprach, erzählte mir, er hätte einst aus gesundheitlichen Gründen für 4 Monate sein Bett nicht verlassen und daher kein Geld für zu zahlende Miete beschaffen können. Bard hätte ihn nicht nur dort wohnen lassen, sondern regelmäßig persönlich nach ihm geschaut, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung sei. Nach Genesung hätte Georgiou sich dann an den Verwalter gewendet. In dem Wissen, dass dieser noch immer einen Betrieb zu führen habe, bot er an, auszuziehen, da er mit seiner Miete erheblich im Rückstand war. Bard hätte daraufhin das Angebot sogar beinahe beleidigt abgewiesen.

Anderen gegenüber soll er wiederum unnachgiebig und streng gehandelt haben. Viele Bewohner sollen, in der Hoffnung, nicht auf Bard zu treffen und von diesem konfrontiert zu werden, regelrecht durch die Lobby und an seinem dort gelegenen Büro vorbei geschlichen sein.

Seine Einstellung den zahlreichen kreativen Bewohnern gegenüber beschrieb er in einem Interview selbst folgendermaßen: „Ich dachte, dass jede Person das Recht dazu hatte, zu tun, was immer sie wollte, solange es dem Hotel nicht schadete.“

Die Atmosphäre, die Bard‘s Politik im Hotel schuf, war einmalig.

Unzählige Menschen verschiedenster Herkunft, Hintergründe, Motivationen und Einstellungen lebten gemeinsam unter einem Dach. Dabei waren sie nicht immer einer Meinung, lebten aber in friedlicher Co-Existenz miteinander und gaben aufeinander Acht. In meinem Gespräch mit Georgiou betonte dieser immer wieder, das Hotel habe jedem Bewohner die Möglichkeit geboten, Teil einer großen Familie zu sein, oder aber die eigene Privatsphäre zu genießen. „Die Wände waren so dick, ich habe nie irgendetwas von meinen Nachbarn gehört.“ Eine andere Residentin, die zu der kleinen Gruppe von Leuten gehört, die noch heute im Chelsea leben, sagte im Interview mit Fotograf Colin Miller und Autor Ray Mock: „Wir waren immer alle in den Wohnungen der anderen und jeder wusste, was abging.“

Einige der berühmtesten Bewohnern, die das Hotel Chelsea einst für kurzen oder längeren Zeitraum ihr Zuhause nannten, waren beispielsweise Autor Arthur C. Clarke, der in seinem Raum das Skript für „2001: A Space Odyssey“ verfasste. Musiker Bob Dylan schrieb in Raum 225 „Sad-Eyed Lady Of The Lowlands“. Zahlreiche weitere Musiker, unter anderem Iggy Pop, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Dee Dee Ramone und Johnny Thunders, lebten ebenfalls dort. Madonna posierte in den 80ern in ihrem Zimmer für ihr Buch „Sex“. Sänger Leonard Cohen soll in einem der Räume einst eine kurze aber erinnerungswürdige Begegnung mit Sängerin Janis Joplin gehabt haben, die er daraufhin in seinem Lied „Chelsea Hotel No. 2“ für die Nachwelt festhielt. Von Japlin selbst stammen die Worte: „Ein Haufen abgefahrener Dinge passieren im Chelsea.“ Fotograf Robert Mapplethorne schoss in dem Raum, den er sich mit Freundin Patti Smith teilte, seine ersten Polaroid Bilder. Schauspielerin und Model Edie Sedgwick steckte einst ihre Gemächer mit einer Kerze in Brand.

Künstler Andy Warhol, der das Chelsea nutzte, um in den Räumen unter anderem Material für seinen berühmten Film „The Chelsea Girls“ zu drehen, soll gesagt haben: „Da drüben lassen sie einfach jeden rein, das Hotel ist gefährlich, es kommt mir so vor, als würde dort wöchentlich jemand ermordet.“ „[Das Chelsea] war schon immer ein Ort, an dem man, Stanley wegen, im Prinzip alles tun konnte außer jemanden ermorden, wobei auch das vorkam“, bestätigte dies Jahre später Gerald Busby, ein Komponist, der 1977 ins Hotel einzog und noch heute dort lebt, in einem Interview mit Vanity Fair.

Zahlreiche Berichten von Drogenmissbrauch und Todesfällen innerhalb der Wände des Hotels bestätigen, dass ein Ort bewohnt von zahlreichen exzentrischen und frei denkenden Persönlichkeiten auch seine Schattenseiten birgt. Einer der Berühmtesten ist wohl der Tod der 20 jährigen Nancy Spungen, die man dort im Jahre 1978 tot im Badezimmer ihres Raumes 100 fand. Dieses hatte sie mit ihrem Freund Sid Vicious bewohnt. Todesursache war enormer Blutverlust durch eine einzelne Stichwunde in ihren Unterbauch, für die man Vicious verantwortlich machte. Dieser konnte sich seines erheblichen Drogenkonsums wegen an den Hergang des Vorfalls nicht erinnern konnte. Vicious selbst starb wenige Monate später an einer Heroin-Überdosis.

Dass der Geist Nancys noch heute die Flure des Chelsea durchwandert, lassen Berichte von Hotelgästen vermuten, die Nancy vor ihrem ehemaligen Zimmer gesehen haben wollen. Andere erzählen von Stimmen eines sich streitenden Pärchens in besagtem Raum, obwohl dieser zu gegebener Zeit nicht vergeben war. Jene Hotelgäste sind dabei nicht die Einzigen, die Begegnungen mit dem vermeintlich Übernatürlichen machen konnten. Es existieren unzählige Berichte von Geistersichtungen und unerklärlichen Phänomenen in den Wänden des alten Gebäudes. In Raum 124 wollen Gäste zum Beispiel den Geist einer Frau im Badezimmer gesehen haben. Andere berichten von der Erscheinung Dylan Thomas‘ vor einem Spiegel in Zimmer 114.

Während meiner Recherchen sprach ich mit einem Bauarbeiter, der noch immer im Chelsea Hotel Nachtschichten einlegt. Er erzählte mir, dass er und Kollegen regelmäßig zwischen drei und vier Uhr morgens Schreie im dritten oder sechsten Flur des Gebäudes vernehmen. Diese seien keinem der aktuellen Bewohner zuzuordnen, werden von jenen allerdings ebenfalls gehört. Außerdem sehe er auf denselben Fluren oft Fußabdrücke auf frisch gewischten Boden, die keinem Menschen zuzuschreiben seien.

Das bunte Treiben im Hotel Chelsea nahm im Jahre 2007 ein jähes Ende. Marlene Krauss, Tochter des ehemaligen Besitzers Krauss, sowie David Elder, Enkel des ehemaligen Besitzers Gross, beschlossen, Stanley Bard als Manager des Hotels abzulösen und das Hotel durch das Unternehmen „BD Hotels“ weiter führen zu lassen. Man war mit der Leitung Bards und dessen Finanzpolitik und Einstellung den Bewohnern gegenüber nicht mehr zufrieden gewesen.

Im Jahre 2011 schloss das Hotel für Renovierungsarbeiten die Türen für neue Gäste, während Langzeitbewohner in ihren Wohnräumen verweilen durften.

Wie unzählige weitere Anwesen in Manhattan, fiel auch das alte und geschichtsträchtige Gebäude jenem Wahn in die Hände, der aus alten Gebäuden Neue machen will, um damit so viel Geld wie möglich zu verdienen. Geschichte und Emotionen scheinen da leider keine Rolle mehr zu spielen.

Sollten die Renovierungsarbeiten ursprünglich nur ein Jahr andauern, ist das Hotel Chelsea noch heute nicht wieder eröffnet und sein Innenleben einer Baustelle ähnlicher als je zuvor.

Seit Schließung des Hotels wechselte es mehrfach den Besitzer, dabei wurden Pläne für dessen Zukunft geschmiedet und wenig später wieder verworfen.

Einer der vorherigen Besitzer, Joseph Chetrit, wollte das gesamte Hotel entkernen und zu einem hoch modernisierten Luxushotel umfunktionieren. Dies konnte durch einen Zusammenschluss einiger der 48 noch immer im Hotel lebenden Langzeitbewohner verhindert werden. Der aktuelle Besitzer soll versuchen, das Hotel so zu renovieren, dass es seinem ursprünglichen Zustand gleicht.

Trotz guter Absichten sind die Gemüter der verbleibenden Bewohner nicht mehr zu erhellen, denn die bereits seit 2011 andauernden Umbauarbeiten und Ungewissheiten wirkten sich sehr negativ auf ihre Lebensqualitäten aus. Der Autor Ed Hamilton, der seit 1995 zusammen mit seiner Frau Debbie Martin das Hotel sein Zuhause nennt, berichtete in seinem Online Blog „Living With Legends“, in dem er von seinem Leben im Chelsea und den Vorgängen innerhalb seiner Wände berichtet, von Ruhestörung durch laute Geräusche, Staub in gesundheitsschädlichen Massen, undichten Wasserleitungen, Ausfällen der Elektrizität und durch Rost verschmutztes Wasser.

Um mir ein eigenes Bild von der Situation innerhalb der Mauern des Gebäudes machen zu können, ließ ich mich von bereits erwähntem Bauarbeiter umherführen. Dabei zeigte sich mir das Hotel Chelsea in einem Zustand weit entfernt von vollendet, glanzvoll und original. Von ehemals drei existierenden Fahrstühlen funktioniert aktuell nur ein einziger, den sich Bewohner sowie die zahlreichen Bauarbeiter, die täglich im Hotel ein und aus gehen, teilen müssen. Die Decken der langen Flure liegen offen und geben Sicht frei auf unzählige Kabel. Noch nicht renovierte Zimmer, von denen noch immer viele existieren, stehen voll alter, kaputter Möbel. Zum Teil werden sie durchzogen von Konstruktionen, die in Zukunft in neue Wände verwandelt werden sollen. Auf meine Frage, weshalb das Hotel nicht wie Anfang 2019 verkündet am Ende desselben Jahres wieder eröffnet werde, antwortete der Bauarbeiter, der aktuelle Besitzer versuche, das Chelsea so originalgetreu wie möglich herzurichten. Dafür sei er auf der Suche nach Originalausstattung bzw. Teilen, die dieser in Alter und Aussehen sehr nahe kommen. Dies habe sich als sehr teuer und zeitaufwendig herausgestellt. Zudem wurde mir versichert: „Die abgehangenen Kunstwerke sind alle sicher in einem Raum im neunten Stock untergebracht.“

Wann genau das Hotel Chelsea seine Türen wieder öffnen wird, ist noch unklar. Geplant ist eine Wiedereröffnung am Ende des Jahres 2020, doch eine weitere Verschiebung dieses Termins wäre keine Überraschung.

Den aktuellen Bewohnern ist gesetzlich ihr Platz im Chelsea gesichert, ein über Jahre hinweg hart erkämpftes Recht. Einige von ihnen konnten durch die Renovierungsarbeiten sogar profitieren und in größere, bessere Apartments innerhalb des Gebäudes umziehen. Eine Sorge aber beschäftigt sie alle, und auch unzählige ehemalige oder Nicht-Bewohner, denen das Hotel Chelsea am Herzen liegt, fragen sich: Wird der Charakter, den das Gebäude unter der Leitung von Stanley Bard entwickelte, und die einzigartige Atmosphäre innerhalb seiner Wände erhalten bleiben? Für fast alle ist die Antwort klar: Nein!

Colin Miller begleitete zusammen mit Ray Mock über einen langen Zeitraum einige der noch immer im Hotel verweilenden Menschen. Er hielt ihre Geschichten und Wohnräume in dem Buch „Hotel Chelsea: Living In The Last Bohemian Haven“ fest und schreibt in seinem Vorwort: „Das Chelsea ist eine Kollaboration über die Zeit, eine Ansammlung von den Einflüssen, die so viele auf es ausgeübt haben. Zumindest war es das bis jetzt.“ Malerin Michele Zalopany, eine Bewohnerin, lässt in einem Interview mit Vanity Fair verlauten: „Jetzt ist es wie in einem Grab. Es existiert kein Leben mehr. Die menschliche Energie hat sich komplett verändert. Ich fühle mich wie in der Twilight Zone.“ Auch Bewohnerin Lola Schnabel erklärt: „Es ist sehr traurig, die nackten Wände ansehen zu müssen und in die Lobby zu treten und am Tresen einen unbekannten Menschen zu sehen, der nicht einmal Hallo sagt. Die Mitarbeiter kümmerten sich einst um dich. […] Sie halfen dir […].“

Während meiner Recherchen versuchte ich, Kontakt zu einigen der verbliebenen Bewohner aufzunehmen. Ich wollte von ihnen persönlich erfahren, wie das Leben im Hotel Chelsea heute aussieht. Von allen von mir Kontaktierten erhielt ich freundlich formulierte Absagen, mit der Begründung, man sei es leid, über das Hotel zu reden. Dies rufe mittlerweile nichts als Traurigkeit und Frustration hervor.

Die Frage, was die Zukunft für das Hotel Chelsea, die „letzte Oase für Künstler“, bereit hält, ist noch offen. Klar ist nur: es wird nie wieder sein, wie es einmal war. Es bleibt zu hoffen, dass der aktuelle Plan zur originalgetreuen Herrichtung des Gebäudes vollendet wird und schon bald Besucher zumindest einen Bruchteil des Flairs verspüren können, den die Bewohner des Hotels vor gar nicht all zu langer Zeit ihren Alltag nennen durften.

* Elisa Tittl

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