„Die allermeisten Opfer islamistischen Terrors sind Muslime.“ Darauf wies der Publizist und Politologe Prof. Dr. Alfred Grosser am Sonntag (9. April) in der vollbesetzten Lutherischen Pfarrkirche hin.
Dem islamistischen Attentat am 13. November 2015 in Paris widmet sich die Ausstellung „BA-TA-CLAN“. Bis Mittwoch (26. April) ist sie täglich von 11 bis 18 Uhr im Rathaus zu sehen. Erstmals werden die Exponate damit außerhalb Frankreichs gezeigt.
Die Ausstellung von Pariser Kunstschaffenden zeigt über 60 Bilder und Plakate. Wegen des hohen Interesses fand ihre Eröffnung nicht im Historischen Saal des Rathauses, sondern in der 250 Meter entfernten Lutherischen Pfarrkirche Sankt Marien statt.
In ihren Grußworten betonten Stadträtin Dr. Kerstin Weinbach und die französische Generalkonsulin Sophie Laszlo die Bedeutung dieses Akts der Solidarität mit den Opfern des Pariser Attentats.
Auf Deutsch erläuterte die Künstlerin Philippine Schaefer die Hintergründe des Zustandekommens der Ausstellung. Sie sei sowohl ein Ausdruck praktischer Solidarität als zugleich auch praktizierte Traumabewältigung.
Auf Französisch bezog Marjolaine Dégremont Stellung zu den Nachwirkungen der Attentate in Paris, Nizza, Brüssel, Berlin, London, Sankt Petersburg und Stockholm. Die vorherrschende Reaktion mit mehr Überwachung und mehr Gewalt oder Einschüchterung sei der falsche Weg, erklärte sie. Vielmehr sei eine Auseinandersetzung mit den Beweggründen der Täter und bessere Bedingungen bei Bildung und Kultur als angewandte Präventionsarbeit notwendig.
In eine ähnliche Kerbe schlug im anschließenden Gespräch mit Kulturamtsleiter Dr. Richard Laufner unter dem Titel „Mensch werden lassen trotz Verzweiflung an der heutigen Welt“ auch Grosser. Zwar kenne die französische Sprache den Begriff „Migrationshintergrund“ nicht, doch grenze die praktische Politik dort vile Menschen in Banlieus aus. Leicht könne man zwar Franzose werden; ebenso leicht würden Menschen aber auch an den Rand gedrängt.
Ihre Antwort darauf sei häufig auch die Suche nach einer anderen Identität. Diese Identität liefere dann in Einzelfällen auch ein archaisch verstandener Islam.
Allerdings sei Brutalität kein Wesensmerkmal des Islam. Grosser erinnerte daran, dass die Katholische Kirche sich den Begriff „Toleranz“ erst seit dem 2. Vatikanischen Konzil im Jahr 1965 zu eigen gemacht habe. Das – von Pegida vollmundig verteidigte – Abendland sei über Jahrhunderte hinweg von Glaubenskriegen und Intoleranz gegenüber Andersgläubigen geprägt gewesen.
Auch der Holocaust und zwei Weltkriege gehörten unauslöschlich zur Geschichte des Abendlands. 1933 hatte Grosser selbst im Alter von acht Jahren mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland nach Frankreich fliehen müssen.
„Le Mensch“ lautet der Titel seines neuesten Buchs. Mit dieser Wortwahl aus Französischem Artikel und deutschem Substantiv plädiert der Publizist dafür, jeden Menschen als Individuum zu betrachten und zu achten. Mehr als 60 Jahre seines Lebens hat Grosser vor allem der Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen gewidmet, für die er vielfältige bedeutende Ehrungen wie den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ erhalten hat.
Viele Franzosen betrachteten Deutschland mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung. Gerade für die Aufnahme Hunderttausennder Geflüchteter könne man der Bundeskanzlerin Angela Merkel nur Bewunderung zollen. Leider rudere sie jetzt aber zurück und unterwerfe sich den unsinnigen Regelungen des Abkommens von Dublin, wonach Flüchtlinge dort Asyl beantragen müssen, wo sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben.
Auf Laufners Frage nach dem Zustand der Europäischen Union (EU) erklärte Grosser, das derzeitige Spitzenpersonal der EU stehe nicht gerade für einen Aufbruch zu mehr Transparenz, mehr Sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Trotzdem beendete der 91-jährige Publizist seine Ausführungen voller Zuversicht: Die Erfahrungen vieler Diskussionen gerade mit jungen Menschen an Schulen in Deutschland und Frankreich bestärkten ihn im Vertrauen auf eine weltoffene, kluge und an Gerechtigkeit sowie Frieden orientierte neue Generation.
* Franz-Josef Hanke
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