Revolutionäre Revue: 50 Jahre 68 mit Gesang, Worten, Witz und Werbung

Im Foyer hängen Fotos von damals. Im Saal zeigt ein Bildschirm das „Testbild“. Dann beginnt „50 Jahre 68 – die Revue“ mit Werbefilmen.
Im vollbesetzten Erwin-Piscator-Haus (EPH) feierte die Inszenierung von Matthias Faltz am Samstag (24. Februar) Premiere. Während die Besucher noch in den großen Saal hereinströmten, stimmte die Werbung für „Persil“ und den Volkswagen auf den Zeitgeist der 60er Jahre ein. Dann begann der Chor mit „Heidschi bumbeidschi“.
Ein junger Mann – gespielt von Julian Trostorf – berichtet von seiner Studentenbude. Kaum gewärmt habe ihn die dünne Decke, unter die er sich verkrochen hatte. Kaum geschützt habe ihn die dünne Wand zum Flur vor den lautstarken Diskussionen der Wohngemeinschaft mit Günter.
Seine Aussagen wechseln sich in der Revue immer wieder ab mit Musik der Zeit um 1968 und Zitaten. Dabei kommen Rudi Dutschke und Ulrike Meinhoff ebenso zu Wort wie der „Volksmund“ in Form von Kommentaren der Oberhessischen presse (OP) und von Passanten im Fernsehen. Auch Schlagzeilen der OP und anderer Medien fehlen nicht.
„Was habt Ihr in der Nazi-Zeit gemacht?“ Die Antwort der Eltern, sie seien damals nicht dabeigewesen und hätten nichts von Konzentrationslagern gewusst, zweifeln die Kinder an angesichts der Aussagen „Unter Adolf hat es so was nicht gegeben“ oder „Diese Kommunisten sollte man ins KZ stecken“.
Aus ihren Diskussionen schließen die Männer die Frauen aus. Deren Einwand, die angestrebte „Neue Gesellschaft“ erfordere auch die Gleichberechtigung, bügeln die Männer mit dem Argument ab, der Streit sei ein „Nebenwiderspruch“, der sich nach der Beseitigung des „Hauptwiderspruchs“ schon von selber erledigen werde.
Nach und nach entsteht so ein Bild der 68er-Bewegung in Berlin, Frankfurt und Marburg. Theorielastige Diskussionen unter rechthaberischen Ideologen werden ebenso nachgestellt wie der Anschlag auf den Studentenführer Dutschke unweit der Berliner Gedächtniskirche.
Geradezu grandios ist die Version von „Ganz in Weiß“: Selbst die samtene Stimme des schmalzigen Roy Black kopiert Artur Molin dabei mit einem leichten tremolo so gekonnt, dass sie vom Original kaum zu unterscheiden ist. Nahezu genausogut gelingt das auch bei einem Schlager von Peter Alexander. Thomas Streibig dageben singt Franz Josef Degenhardt zur Gitarre mit einer großartigen eigenen Interpretation.
Den vorläufigen Höhepunkt bildet dann die Überleitung von Heintjes rührseliger Schnulze „Mama“ zu „Wild Thing“ von der Gruppe „The Troggs“. Mit der Gegenrede des Chors „Mama“ zum Refrain „Wild Thing“ zeichnet allein dieses Stück die Dialektik der 68er zwischen Behäbigkeit und Beat ganz großartig nach.
Die kurzweilige Geschichtsstunde vermittelt nicht nur viel Zeitgeist, sondern auch die wichtigsten Ereignisse zwischen der Ermordung des Stundenten Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel bei einer Demonstration gegen den besuch des iranischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi am 2. Juni 1967 bis hin zur Auflösung des SDS am 21. März 1970 in Frankfurt und der Gründung der „Rote Armee Fraktion“ (RAF). Immer wieder werden auch Aktionen und Demonstrationen in Marburg gemeldet oder die Position des Marburger Politologen Prof. Dr. Wolfgang Abendroth zu wichtigen Vorkommnissen zitiert. Aus Solidarität legten die Künstler des Marburger Schauspiels nach dem Anschlag auf Dutschke ihre Arbeit nieder.
Auch die Studentenrevolte in Frankreich und die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg werden erwähnt. Untermalt wird das Ganze mit Musik von Bob Dylan und Joaen Baez sowie der italienischen Revolutionshymne „Bandiera Rossa“.
Am Ende stellen die Schauspieler auch kurz die weiteren Lebenswege der wichtigsten Protagonisten vor. Bis ins Jahr 2017 zeichnen sie Auswirkungen der 68er Jahre nach.
Insgesamt hat sich die Revue fast ein wenig zu viel vorgenommen. Die verbindenden Monologe des Studenten in seiner kleinen Bude sind zwar witzig, mitunter aber ein wenig zu lang. Fast wird auch die Fülle der Geschichten und Texte zu groß, aber weniger wäre möglicherweise hier und da dann vielleicht auch zuwenig geworden.
Beim Absingen der „Internationale“ bedient sich die Revue dann auch der albernen Verulkungs-Strophen von PeterLicht. Ansonsten aber hält sie gekonnt die Wage zwischen Witz und Ernst, Geschichtsdarstellung und Kritik.
Auch im Detail zeichnet die Inszenierung das Zeitkolorit gekonnt nach. Immer wieder zünden sich die Darsteller auf der Bühne eine Zigarrette an, während sie diskutieren oder Texte vortragen.
Alle Beteiligten glänzten durch Spielfreude und Können ebenso wie durch ihre Sangeskünste. Lisa-Marie Gerl und Stefan Piskorz spielten ihre Parts überzeugend. Besonders herausragend waren jedoch auch die Sangeseinlagen von Franziska Knetsch.
Zu Recht erhielten Chor, Schauspieler und Regisseur am Ende begeisterte Pfiffe und tobenden Applaus. Dem Ensemble ist ein lehrreicher, geistreicher und unterhaltsamer Rückblick auf 68 und all seine Widersprüche zwischen Prüderie und sexuellem Aufbruch, Kleingeist und Klassenkampf, Idiotie und Ideologien gelungen.
Absolut nicht mehr zu halten war das Publikum am Ende dann bei der vorbereiteten Zugabe. Der gesamte Saal sang inbrünstig mit. Nicht zuletzt auch wegen ihrer Sympathie für die engagierten Menschen 1968 und heute wird diese Revue garantiert großen Zuspruch gewinnen.

* Franz-Josef Hanke

Ein Kommentar zu “Revolutionäre Revue: 50 Jahre 68 mit Gesang, Worten, Witz und Werbung

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