“Es muss etwas verändert werden!”, dieser Leitsatz begleitete am Donnerstag (2. Mai) die Besucher der Aktionslesung zum Kriminalroman “Zündeln an den Strukturen”. Autor Ottmar Miles-Paul berichtete über die realen Missstände in Behindertenwerkstätten, die seine Geschichte inspirierten.
Mit großem Interesse hatten sich am Donnerstag, um 19 Uhr, eine Reihe von Besucher im Hotel Vila Vita Rosenpark versammelt. Die Veranstaltung wurde von der Humanistischen Union (HU) Marburg im Zusammenhang mit dem Europäischen Protesttag für Gleichstellung behinderter Menschen organisiert sowie mit Unterstützung der Aktion Mensch.
Der barrierefreie Raum war wenige Minuten vor Beginn der Lesung gut gefüllt und Gespräche zur Behindertengerechtigkeit und Selbstbestimmtheit waren bereits im Gange. Dieser Abend sollte genau für diese Themen ein Ort des Austausches, der Diskussion und der “Befeuerung” sein, ganz im Sinne des Romans, dessen Dreh- und Angelpunkt die Brandstiftung an einer Werkstatt für Behinderte ist. Wie die Akteure der Geschichte mit den Folgen des Brands umgehen und wer hinter diesem einschlagenden Ereignis steckt, sollten die Zuhörer der Lesung bald erfahren.
Zunächst begrüßte der Vorsitzende der HU-Marburg Franz-Josef Hanke alle Anwesenden im Namen der Bürgerrechtsorganisation. Im Zuge der Veranstaltung verkündete Hanke zudem den Preisträger des “Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte” 2024: Ottmar Miles-Paul. Unter tosendem Applaus erklärte Miles-Paul, dass er sich sehr geehrt fühle, diesen Preis zu erhalten. Die Verleihung des Leuchtfeuers wird am 3. Juni 2024 stattfinden. Die Laudatio auf den Behindertenrechtsaktivisten wird die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer halten.
Nach dieser erfreulichen Verkündung ergriff die Moderatorin des Abends und freie Mitarbeiterin der Online-Zeitung Marburg.News Laura Schiller das Wort. In einer kurzen Rede wurde das Publikum über den biographischen Hintergrund des frisch gebackenen Autors aufgeklärt.
Der gebürtige Kasseler werde schließlich auch als “Vater der deutschen Behindertenbewegung” betitelt, verkündete Schiller. In zahlreichen Feldern und Tätigkeiten hat der Hör- und Sehbehinderte bereits für die Gleichstellung behinderter Menschen gekämpft, so auch als Behindertenbeauftragter in Rheinland-Pfalz. Miles-Paul war beteiligt an der Einführung der Aktion zum Europäischen Protesttag am 5. Mai zur Behindertengerechtigkeit. Als Mitstreiter sorgte er ebenfalls dafür, den Satz, “Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden”, in das deutsche Grundgesetz aufzunehmen sowie für die Umbenennung der “Aktion Sorgenkind” zur “Aktion Mensch”. Er ist zudem Mitgründer der “Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben” (ISL), “deren Augenmerk auf selbstbestimmtem Leben für Menschen mit Behinderungen liegt”, erklärte Schiller.
Für diese und noch viele weitere Verdienste im Kampf für Menschen mit Behinderung erhielt Miles-Paul den Carl-von-Ossietzky Preis von der internationalen Liga für Menschenrechte. Der Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland wurde ihm ebenfalls für sein Engagement und überragenden Einsatz verliehen.
Als Journalist informiert Miles-Paul auf der selbst gegründeten Plattform “kobinet-Nachrichten” tagesaktuell über Neuerungen in der Behindertenpolitik. Die Schreibarbeit ist ihm also nicht fremd, doch wechselte der 59-Jährige nun in das Genre der Fiktion mit seinem Debütroman “Zündeln an den Strukturen”.
Genau dieser Sprung vom journalistischen Schreiben zur Unterhaltungsliteratur war nun das Einstiegsthema der Lesung. Woher kommt dieser doch plätzliche Wechsel? Miles-Paul erklärte, dass in seiner Erfahrung aus Gremien und anderen politisch-fokussierten Gesprächen die Antwort auf diese Frage liege. “Über Behinderung und damit Behinderte wird immer sehr technokratisch gesprochen”, berichtete er. Man betrachte Zahlen anstatt die menschlichen Erfahrungen der Behinderten in den Fokus zu rücken. Von Seite der Betroffenen in den Werkstätten nehme Miles-Paul oft eine Angst wahr, bloß nicht über die Missstände zu reden, schließlich mussten sie ja am nächsten Tag genau wieder an diesen Ort zurückkehren. Es gebe quasi keine Alternativen. “Doch diese Menschen müssen mehr in die Diskussion kommen!, erklärte Miles-Paul, “deswegen habe ich diesen Roman geschrieben“. Es muss etwas bei den Werkstätten verändert werden. Ottmar Miles-Paul sehe sich mit seinem Buch als Brandstifter für Diskussionen und Veränderung.
Zusammen mit seiner Leseassistenz Sabine Lohner führte Miles-Paul das Publikum durch einige einschlagenden Passagen seines Buches. Hierbei agierten sie als Team. Lohner las die vorbereitete Stelle vor und Miles-Paul kommentierte das Vorgelesene mit ergänzenden Informationen oder einer Einordnung in die Handlung.
Die ausgewählten Auszüge explorierten verschiedene Charaktere mit ihren ganz persönlichen Erfahrungen und Träumen. So lernten die Zuhörer beispielsweise eine der Brandstifter Helen Weber kennen. Die stetige Diskrimierung in der Lindentalwerkstatt für Behinderte trieb sie zur Notwehr, wie die Figur selbst die Tat beschreibt. Behinderte Menschen sollen ihrer Meinung nach in ganz normalen Betrieben arbeiten und nicht isoliert in Werkstätte mit schlechter Behandlung sowie geringfühgiger Bezahlung abgeschoben werden. Der Brand ist für sie der letzte und ultimative Chance endlich Veränderung zu erzwingen, nach jahrelangen erfolglosen Versuchen. Helen Weber und ihre Freunde hoffen, dass nun neue Strukturen geschaffen werden um behinderten Menschen endlich die Gleichstellung zu schaffen die sie verdienen.
Mittäter Klaus Kriske erlebte sein Leben lang wie er von Menschen aufgrund seiner Sprachbehinderung übergangen wurde. Er musste sich anpassen und versuchen mit seinem humpelnden Gang und den Schwierigkeiten in der Kommunikation nicht aufzufallen. Doch immer wieder verfolgte ihn die gleiche Abwertung: dumm.
Klaus Kriske und Helen Weber sind zwar fiktionale Charaktere, doch ihre Erfahrungen basieren auf dem realen Leid behinderter Menschen überall in Deutschland. Die Diskriminierung in den Werkstätten und im Alltag sind ihre konstanten Begleiter. Dazu kommt eine unmenschliche Entlohnung für ihre Arbeit. Klaus Kriskes im Buch angegebener Gehalt von monatlich 193€ für 35 Arbeitsstunden entspricht den wirklich Arbeitsumständen in Deutschland. Solche realen Fakten hinter der fiktionalen Erzählung, hebt Miles-Paul in seinem Buch immer wieder hervor. Das sei auch der Grund für die Betitelung seines Werkes als Reportage-Roman, erklärte der Autor. Die menschlichen Erfahrungen begleiten in seinem Buch die realen Zahlen. So nennt er beispielsweise alle seine Figuren stetts bei ihrem vollen Namen, “denn Behinderte werden schnell einfach geduzt”, erklärte der 59-Jährige. Es ist als hätten behinderte Menschen gar keinen Nachnamen und das wollte er in seinem Werk unbedingt aufgreifen.
In einer anderen Passage lernte das Publikum die “rassende Reporterin” Katrin Grund kennen, die im Roman eine so große Rolle spielt, dass Miles-Paul verkündete, “Es ist ja eigentlich ihr Buch!”. Die Volontärin bei einer lokalen Zeitung wird von ihren Kollegen nicht ernst genommen und hofft, dass sie mit der Brandstiftung auf die Lindentalwerkstatt eine bahnbrechende Story publizieren kann. Doch mit der Recherche kommt auch die Konfrontation mit den Lebens- und Arbeitsumständen behinderter Menschen. Sie verfolgt daraufhin die große Frage die sich durch den Roman und die Geschichten aller Figuren zieht: Was können wir für die Menschen in den Behindertenwerkstätten tun?
“Zündeln an den Strukturen” bietet einen einschneidenden Blick in das Leben als Behinderter in Deutschland und zeigt auf, wie Menschen ohne Hilfe und Alternativen in Behindertenwerkstätte abgeschoben werden. Der Roman erklärt auch wie bestehende Hilfsmittel wie das Budget für Arbeit (BfA) – welches einen Lohnzuschuss für Arbeitgeber bei behinderten Angestellten beinhaltet – einfach nicht genutzt wird oder hinter den Wänden der Bürokratie schwer erreichbar bleibt. Miles-Paul hat mit seinem Buch nicht nur eine interessante Handlung auf Papier gebracht sondern erfüllt zusätzlich einen wichtigen Auftrag zur Aufklärung der Menschen in Deutschland.
Die Gäste der Lesung gaben mit einem tossenden Applaus an, wie toll sie die Einblicke in den Roman fanden. Immer wieder hatte es Reaktionen aus dem Publikum gegeben, wenn die Gehälter in den Werkstätten genannt wurden oder bei diskriminierenden Aussagen die, die Figuren ertragen mussten. Ein empörtes Raunen war im Raum zu hören, als Miles-Paul verkündete, dass nicht mal 5.000 aller Behinderter in Deutschland vom BfA profitieren.
Die anschließende Fragerunde wurde eine Möglichkeit zum Austausch positiver sowie negativer Erfahrungen als Behinderter in Deutschland. So bestätigte ein Besucher beispielsweise, wie schwer es als Arbeitgeber doch sei das BfA wirklich in Anspruch zu nehmen, “die größte Hürde ist die Bürokratie”, verkündete er unter Applaus. Ohne die richtigen Strukturen sei es aktuell nicht zu schaffen, die Gleichberechtigung in der Arbeitswelt für Behinderte umzusetzen.
Doch auch motivierende Geschichten wurden geteilt. Miles-Paul berichtete, dass seine Organisation nach langem Kampf vier Menschen die Arbeit in normalen Betrieben ermöglichen konnte. Doch was nach all den Fragen und Erfahrungen blieb, war der Fakt, dass eine normale Arbeitserfahrung für Behinderte aktuell noch viel Kraft und einen harten Kampf bedeutete. “Wir müssen für unsere Rechte und unsere Demokratie kämpfen”, betonte Hanke am Ende der Veranstaltung. Er sehe diesen Abend als eine große gegenseitige Bestärkung, um den Weg Richtung Gleichberechtigung und Selbstbestimmtheit weiter zu bestreiten.
Ottmar Miles-Paul bedankte sich bei allen Anwesenden und für ihre Aufmerksamkeit, Interesse und die regen Beiträge. Eine Veranstaltung wie diese sei schließlich genau das, was er sich beim schreiben seines Romans erhofft hatte. Er hoffe auf noch viel mehr, “Gespräche und Diskussionen über versteckte Gruppen”, wie die Behinderten in den Werkstätten, die abseits der Öffentlichkeit unter Diskriminierungen und schlechten Arbeitsbedingungen leiden. Mögen wir uns alle gegenseitig in unserem Kampf um Gerechtigkeit “befeueren”.
* Acelya Simsek
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