Ihr Buch „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland“ haben Çetin Gültekin und Mutlu Koçak am Dienstag (19. März) in Marburg vorgestellt. Es beschreibt Leben und Tod von Gökan Gültekin.
Überdurchschnittlich viele junge Leute waren der Einladung des Hessischen Landestheaters Marburg (HLTM) ins Theater am Schwanhof (TaSch) gefolgt. Daneben war aber auch das Stammpublikum vertreten, sodass das „Kleine TaSch“ bis zum letzten Platz gefüllt war. Mit einer lauten und irritierenden Einspielung begrüßten die beiden Autoren zunächst das Publikum, bevor dann Mutlu Koçak das Wort ergriff.
Zunächst warnte er das Publikum vor verstörenden Inhalten, die das Buch enthalte und die auch an diesem Abend angesprochen müssten. Manches sei schwer erträglich, erläuterte er. Doch müsse man die Wahrheit offen aussprechen, wenn man die Geschichte des 19. Januars 2020 ehrlich aufarbeiten wolle.
Am 19. Januar 2020 waren in Hanau insgesamt neun junge Menschen von einem Rassisten ermordet worden. Einer von ihnen war Gökan Gültekin. Zu seinem Gedenken hat sein älterer Bruder Çetin sein Leben und die Umstände seiner Ermordung sowie deren Aufarbeitung durch die Behörden, durch die „Initiative 19. Februar Hanau“ und die Rechercheagentur „Forensic Architecture“ festgehalten.
Niedergeschrieben hat diese Geschichte sein Mitautor Koçak anhand von mehreren längeren Interviews. Zudem hat er eigene Texte über die Nürnberger Opfer des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) und weitere Opfer rassistischer und antisemitischer Mordanschläge beigesteuert. Mit Interviews für diese Texte war der Nürnberger bereits vor dem 19. Februar 2020 beschäftigt.
Çetin Gültekin überzeugte ihn dann davon, den Schwerpunkt des Buchs dem Leben von Gökan Gültekin zu widmen. So beginnt die Geschichte mit einem „Märchen“, wie die beiden Autoren die Kindheit der Brüder Gültekin im Hanauer Stadtteil Groß-Auheim übertitelt haben. Anschließend beschreibt Gültekin aber auch die dunklen Kapitel im Leben seines Bruders, den er nicht zu einem „Helden“ hochstilisieren möchte.
All das trug Koçak in einer lockeren Zusammenfassung vor, in die er auch kurze Lesungen von Textpassagen aus dem Buch einstreute. Zwischendurch gewährte er Çetin Gültekin reichlich Raum, die Geschichte mit eigenen Beschreibungen, Bewertungen und Befindlichkeiten anzureichern. Dabei wiederholte Gültekin mehrmals ausführlich das, was sein Coautor zuvor bereits in komprimiertem Text vorgetragen hatte.
Mitunter waren Gülgekins Beschreibungen drastisch und dramatisch. Gerade bei der Schilderung des Mordabends war seine ausführliche Beschreibung wichtig, um das Geschehen und die Situation der Opferfamilien besser verstehen zu können. Die Hanauer Polizei ließ sie nicht nur allein, sondern führte sie letztlich sogar regelrecht hinters Licht, indem sie sie in eine Polizeisporthalle brachte, wo sie bis zum frühen Morgen auf belastbare Aussagen warten mussten.
Ebenso wichtig war auch sein Bericht über die Leichenwaschung, die erst fünf Tage nach dem Attentat ermöglicht wurde. Für gläubige Muslime ist bereits das schwer erträglich; doch seine Beschreibung des Zustands der Leiche ließ seine Verzweiflung und Wut sehr plastisch werden. Schließlich erhielt er noch Monate später weitere Leichenteile in einer Box, die er – ebenso wie den Körper seines Bruders Gökan – in der Türkei beisetzen musste.
Etwas mehr Stringenz vor allem bei Koçaks Moderation hätte dem Abend jedoch gut getan. Er hätte Gültekins ausufernder Zurschaustellung seines zerstörerischem Selbsthasses nicht so viel Raum bieten dürfen. Das tut weder dem Trauernden gut, noch ist es dem Publikum in dieser Breite und Länge zumutbar. So verließen zahlreiche Gäste das „Kleine TaSch“ im Laufe des Abends bereits, bevor Koçak nach knapp zweieinhalb Stunden die Publikumsrunde eröffnete.
Trotz der belastenden Darstellung war die Lesung insgesamt aber absolut hörenswert. Wäre die Fragerunde früher eröffnet worden, hätte das Publikum Gültekin auch ermuntern können, seine Wut und Verzweiflung sowie seinen quälenden Selbsthass in konstruktivere Bahnen zu lenken wie seine Leidensgenossin Serpil Unvar. Doch auch die unguten Gefühle sind letztlich die Folge eines Mords und eines unerträglichen Umgangs von Polizei und anderen Behörden mit dieser rassistischen Tat und ihren Opfern.
* Franz-Josef Hanke