Vor Klimafolgen: Kongress diskutierte Zukunft der Ernährungssysteme

Die Zukunft der Ernährung stand im Mittelpunkt eines internationalen Kongresses. Stattgefunden hat er bereits von Montag (6. November) bis Mittwoch (8. November) in Marburg.
120 Teilnehmende aus 17 Ländern haben sich von Montag (6. November) bis Mittwoch (8. November) in Marburg drei Tage lang intensiv mit Strategien für zukunftsfähige Ernährung beschäftigt. Der internationale Kongress mit dem Titel „Unsere Ernährung in die Hand nehmen! Gemeinsam resiliente Ernährungssysteme gestalten“ versammelte Expertinnen und Experten aus Marburg, Deutschland und der Europäischen Union (EU), die Tätigkeitsfelder aus dem gesamten Ernährungsbereich abdecken. Welche wichtige Rolle Ernährung für die Lebensqualität in Stadt und Landkreis spielt, betonten Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies und Landrat Jens Womelsdorf in ihren Grußworten zur Eröffnung.
Danach stand der Austausch von positiven Erfahrungen, Herausforderungen und guten Lösungsansätzen im Vordergrund. So berichteten die letztjährigen Gastgeber der Konferenz aus dem bretonischen Plessé, wie sie dem Höfesterben auf dem Gemeindegebiet durch aktive Vermittlung der Kommune entgegenwirken. Beispielsweise konnten in den letzten drei Jahren 25 Höfe, deren Betreibende in Rente gingen, an Junglandwirt*innen übergeben werden; vier weitere Betriebe wurden eröffnet. Das ist eine Bilanz, von der viele Landstriche nur träumen können!
Wie junge Landwirtinnen und Landwirte überhaupt zu Flächen kommen, die sie bewirtschaften können, war Thema eines so genannten „Werkraums“. Nicht nur im Landkreis, sondern europaweit ist das ein viel diskutiertes Problem. Die Niederweimarer Solawi Petersilie Ziegenbäuerin Claudia Smolka und Milchbauer Clemens Gabriel haben für sich Antworten gefunden. Die Besonderheit: Alle nutzen Finanzierungsmodelle, die über den Privatbesitz hinausgehen und aufzeigen, dass gute Kooperationen zwischen Landwirt*innen und Bürger*innen bzw. zivilgesellschaftlichen Organisationen gewinnbringend für beide Seiten sein können.
Insgesamt gibt es große Herausforderungen, aber auch viele gute Lösungsvorschläge: „Es ist toll und motivierend, sich hier auszutauschen“,erklärte eine Teilnehmerin. „Von Menschen zu hören, die mutig vorangegangen sind und viel erreicht haben, auch ohne auf Gesetzesänderungen zu warten, ist inspirierend. So wie in Mouans-Sartoux: Dass sie dort schon seit Jahren alle öffentlichen Kantinen, auch Schulen und Kitas, mit von der Stadt angebautem Gemüse beliefern, begeistert mich restlos.“
Sie fügte hinzu: „Einen Ansatz für die regionale Versorgung von Kitas gibt es in Marburg ja auch schon, vielleicht ist das ausbaufähig.“
Genau dafür gibt es Hoffnung: Die Wirkung des Kongresses soll nicht verpuffen, sondern nach dem Willen der Robert-Bosch-Stiftung, die die Haupt-Geldgeberin ist, in Marburg und Region weiterhin Wirkung entfalten. Noch bis März 2025 stehen Fördergelder zur Verfügung, die das kollektiv von MORGEN verwenden kann und soll, um Kooperationen, Ideen und Projekte, die entstanden sind, zu begleiten und zu moderieren.
Ein erstes digitales „Follow-up-Treffen“ für regionale Akteur*innen ist am Donnerstag (23. November) um 19 Uhr geplant. Am Ende der Tage standen erste Formulierungen für den „Marburger Aktionsplan für zukunftsfähige Ernährungssysteme“. Dieser Plan formuliert sowohl regional, wie auch auf EU-Ebene, wie eine Transformation der Ernährungssysteme hin zur Krisenfestigkeit aussehen kann.
Eine Empfehlung, die direkt an die Erfahrungen aus Plessé anschließt lautet: „Wir müssen die gesellschaftliche Schwarmintelligenz nutzen, um nachhaltige, lokale Agrar- und Lebensmittelpolitiken zu schaffen. Wir brauchen dafür ausreichend finanzierte Kommunikations-Räume, in denen gemischte Akteursgruppen die Transformation der Ernährungssysteme voranbringen können. Es sollten Kommunen, Verwaltungen, Zivilgesellschaft, Schulen und Privatwirtschaft und andere beteiligt sein.“ Wer denkt da nicht an den Bürgerrat Ernährung, der zurzeit auf Bundesebene eingesetzt ist oder an den Governance-Beschluss des Marburger Stadtparlaments?
Der Aktionsplan enthält konkrete Ideen zur Stärkung lokaler Wertschöpfungsketten, der Verbesserung von Zugang zu Land, zu Fragen lokaler Ernährungspolitik und der Ernährungsbildung. Er wird zurzeit fertig gestellt und zeitnah veröffentlicht.
Mit einer partizipativen Podiumsdiskussion schloss die Veranstaltung. Dabei diskutierten prominente Gäste wie Staatssekretärin Silvia Bender und Staatssekretär Oliver Conz vom Bundes- beziehungsweise Hessischen Landwirtschaftsministerium und Bürgermeisterin Nadine Bernshausen sowie zivilgesellschaftliche Vertreter*innen darüber, ob eine lokale Infrastruktur im Ernährungssystem als öffentliche Daseinsvorsorge zu begreifen ist und welche Ansätze der Governance und Beteiligung von Bürger*innen es braucht, damit Veränderungen auch gesellschaftlich getragen werden. Der stellvertretende Bürgermeister Thierry Lohr aus Plessé stellte fest: „Wir können nicht immer auf die richtigen politischen Mehrheiten warten. Es ist auch Aufgabe von Politik und Verwaltung, Veränderungen so zu gestalten, dass es noch eine lebenswerte Perspektive auf dem Planeten gibt.“
Dafür liefert die Gemeinde Plessé ein besonderes Beispiel hinsichtlich eines eigenen demokratischen Beteiligungsansatzes, der auch Veränderungen beispielsweise bei der Vergabe von Land ermöglichte. Wer zu Ernährungssystemen arbeitet oder im Nahrungsmittelsektor tätig ist, ist eingeladen, sich zum Follow-up am Donnerstag (23. November) unter anmeldung@kollektiv-von-morgen.de anzumelden.
Der internationale kokreative Kongress „Unsere Ernährung in die Hand nehmen. Gemeinsam resiliente Ernährungssysteme gestalten“ ist Teil des Projekts „Rural Europe takes Action“ (RETA). Er bringt Akteurinnen und Akteure wie Nahrungsmittelproduzierende, verarbeitende Betriebe, Handel und Verbrauchende sowie Menschen aus Politik und Verwaltung miteinander ins Gespräch, um gemeinsam Möglichkeiten, Hindernisse, Bedarf und Handlungspotentiale einer regionalen Ernährung zu erörtern. Neben dem regionalen Schwerpunkt liegt der Fokus auf dem internationalen Austausch beispielsweise mit der Gemeinde Plessé in Frankreich sowie auf der Begleitung von Gesetzgebungsverfahren in Deutschland und der EU. Für die Stadt Marburg und den Landkreis Marburg-Biedenkopf stehen noch bis Anfang 2025 Gelder zur Verfügung, die die Begleitung, Moderation und Koordination der auf dem Kongress angestoßenen Impulse auf lokaler Ebene möglich macht.

* pm: Kollektiv von Morgen, Marburg

Kommentare sind abgeschaltet.