Bildung inklusiv: Kongress zur Blinden- und Sehbehindertenpädagogik ging erfolgreich zu Ende

Mit einer Abschlussfeier und einem Fachvortrag neigte sich der 37. Kongress zur Blinden- und Sehbehindertenpädagogik am Freitag (4. August) dem Ende zu. Über die Herausforderungen für die Pädagogik bei Sehbeeinträchtigung klärte Prof. Dr. Sven Degenhardt als letzter Referent auf.

Bereits 15 Minuten vor Beginn der Abschlussveranstaltung war die Sporthalle auf dem BliStA-Campus gut gefüllt. Seit Montag (31. Juli) hatten sich zahlreiche Menschen aus ganz Deutschland in Marburg eingefunden, um dem Kongress des Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (VBS) beizuwohnen. Nun war der letzte Tag der ereignisreichen Woche gekommen; und alle versammelten sich zu den letzten Redebeiträgen des Kongresses.

Degenhardt ist Professor für Pädagogik bei Beeinträchtigung des Sehens und Blindheit an der Universität Hamburg. VBS- Vorsitzender Patrick Temmesfeld bezeichnete ihn als “wahren Kämpfer im Bereich der Barrierefreiheit”. Er freue sich auf einen leidenschaftlichen und diskursiven Vortrag. 

In seinem Redebeitrag erläuterte Degenhardt wichtige Punkte für ein barrierefreies Lehren und Lernen. So führte er als Negativbeispiel zur Thematik das neue Gesetz in Florida an. Demnach können bundesstaatliche Gelder nicht mehr für Programme für Vielfalt, Inklusion und Gleichstellung an Hochschulen genutzt werden. Auch dürfen “diversity, equity and inclusion” (DEI) Ausrichtungen nicht mehr in Pflichtkursen thematisiert werden. “Wir müssen nicht alles, was unsere amerikanischen Freunde tun, nachmachen“, kommentierte Degenhardt das Gesetz. Es sei ein schockierender und unverständlicher Schritt.

Doch in Deutschland sehe es auch nicht gut aus, bemerkte Degenhardt und bezog sich im Folgenden auf einen Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR). Das DIMR erläutert, dass Deutschland noch immer weit entfernt von einem inklusiven Bildungssystem ist. Das liegt vor allem daran, dass Förderschulen zu mehr Exklusion als Inklusion führen. 

“Doch wo ist die wichtige Inklusions-Debatte in Deutschland gelandet? Im Kabarettarchiv!“, bemerkte Degenhardt und verwies auf eine Folge der Kabarett-Serie “Die Anstalt”. Ein inklusives Bildungswesen müsse auf Länderebene ernst und konstruktiv diskutiert werden, betonte Degenhardt. Des Weiteren sprach er wichtige Punkte an, die sich grundlegend ändern müssen, um diesem Ziel auch nur einen Schritt näherzukommen. 

Der Schwerpunkt seines Vortrags lag auf der Forderung, dass Regelschulen sich ändern müssen. Degenhardt betonte die Relevanz von mehr “universal design in learning” (UDL) zur Anpassung des Unterrichts anstelle der Kompetenzorientierten Curricula. Wenn der Unterricht beispielsweise nicht in der Lage ist, sich an ein Kind mit Lesebehinderung (print disability) anzupassen, dann ist der Unterricht das Problem und muss sich ändern.

Eine konkrete Anlaufstelle ist eine Materialentwicklung für Aufgaben, die schlussendlich von allen Kindern bearbeitet werden können. Beispielsweise seien viele Bildbeschreibungen aus Schulbüchern eher hinderlich, bemerkte Degenhardt. “Bildbeschreibungen müssen keine zwei Seiten lang sein. Da ist der Unterricht ja schon vorbei, bis die Kinder das gelesen haben”. Auch eine Reform der Prüfungen sieht er als notwendig an. “Sie müssen für alle funktionieren”, sagte Degenhardt, woraufhin das Publikum zustimmend applaudierte. 

„Wir brauchen Blindenschulen, weil es auch Ausbildungsschulen sind.“Das ist eEin Argument für das aktuelle System, dass Degenhardt häufig zu hören bekommt. Lehrkräfte würden demnach an Sonderschulen essentielle Kompetenzen für die Arbeit mit sehbehinderten Kindern erlernen. Das empfindet Degenhardt nicht nur als falsch, es sei noch dazu ein ganz schräger Gedanke. Er betonte, dass eine jahrelange Tätigkeit an einer Blindenschule sogar ein hinderlicher Faktor sei. “Expertise entsteht nicht durch das Sondersystem, sondern durch das Wissen darum, was das Beste für das Kind, für den Unterricht ist”, sagte Degenhardt. 

Ein inklusives Bildungswesen ist förderlicher als die derzeitige Separierung. Noch seien wir weit davon entfernt, erläuterte Degenhardt, “doch ein Schritt ist besser als keiner. Wir sollten nur nicht stehenbleiben.” Degenhardts Vortrag war ein krönender Abschluss des Kongresses und erhielt tosenden Applaus. 

Erfolgreich hatte Degenhardt die wichtigen Impulse der letzten Woche aufgegriffen, bemerkte VBS-Vorsitzender Temmesfeld. Den letzten Redebeitrag gab daraufhin Erwin Denninghaus mit einem kurzen historischen Rückblick auf die Kongressgeschichte. 

“Meinen Vortrag möchte ich auf eine besondere Weise präsentieren”, kündigte Denninghaus an. Nach zehn Minuten war es soweit. Plötzlich verwies er auf einen riesigen QR-Code in seiner Präsentation. Ein kurzer Scan führte das Publikum zu einem Dokument mit 2.700 Wörtern. “Das ist mein Vortrag-to-go!”, erklärte Denninghaus und bedankte sich für die Aufmerksamkeit. Diese Idee füllte den Raum mit Gelächter.

Nach den letzten Redebeiträgen der Woche wurden alle verfügbaren Helfer*innen der vergangenen Tage auf die Bühne geholt. Während des lange anhaltenden Applauses wurden auch Blumen und Gutscheine als Dank verteilt. “Ihr habt euch den Feierabend mehr als verdient!”, sagte Temmesfeld und bedankte sich im Namen aller bei den Mitarbeitern.

Der Kongress endete mit der traditionellen Staffelübergabe an das Team der Blindenstiftung aus Würzburg. Dort soll der 38. VBS-Kongress 2028 stattfinden. Temmesfeld bedankte sich nochmals bei allen Teilnehmern, “Wir wünschen Ihnen, dass Sie inhaltlich und menschlich bereichert nach Hause kommen.”

* Acelya Simsek

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