Wildpflanzen können sich bei landwirtschaftlicher Vermehrung verändern. Eine neue Studie untersucht die schnelle Domestizierung von Wildpflanzen.
Die Zerstörung natürlicher Lebensräume ist global die größte Bedrohung für die biologische Vielfalt. Bereits mehr als die Hälfte der weltweiten Landfläche ist degradiert. Dieser fatale Zustand kann jedoch durch die Renaturierung von Ökosystemen – die Wiederherstellung natürlicher Lebensräume auf degradierten Flächen – teilweise rückgängig gemacht werden.
Zu den Renaturierungsmaßnahmen gehören zum Beispiel die Wiederherstellung von Wäldern durch das Pflanzen von Bäumen oder von Grasland durch die Ausbringung von Samen. Das Saatgut für diese Maßnahmen wird in der Regel in speziellen landwirtschaftlichen Saatgutbetrieben erzeugt.
Ein Team unter der Leitung von Forschenden der Philipps-Universität hat nun genauer untersucht, wie sich die Eigenschaften von Wildpflanzenarten im Zuge der landwirtschaftlichen Saatgutproduktion verändern. Innerhalb von nur drei Generationen entwickelten einige Arten Anzeichen eines Domestikationssyndroms – einer Reihe von Merkmalen, die Nutzpflanzen typischerweise während der Domestikation entwickeln: Sie wurden größer, blühten üppiger und einheitlicher.
Die – in den ersten Generationen beobachteten – Veränderungen waren jedoch zumeist geringfügig und dürften die Eignung der derzeit produzierten Samen für Renaturierungszwecke nicht beeinträchtigen. Dennoch sind die beobachteten Merkmalsverschiebungen eine erste Warnung, dass Saatgut von Wildpflanzen nur für eine begrenzte Anzahl von Generationen produziert werden sollte, bevor eine Auffrischung durch frisches Saatgut aus der freien Natur erfolgt. Die Ergebnisse der Studie wurden in der Zeitschrift „PNAS“ veröffentlicht.
Die Renaturierung von Ökosystemen kann den durch die Verschlechterung der Lebensräume verursachten Rückgang der biologischen Vielfalt umkehren. In terrestrischen Ökosystemen beinhalten die Maßnahmen oft die Ausbringung von Saatgut, das jedoch bei dem derzeit steigenden Bedarf nicht in ausreichender Menge von den natürlichen Ökosystemen zur Verfügung gestellt werden kann. Um dieses Problem zu überwinden, wird das Saatgut in spezialisierten Saatgutbetrieben vermehrt im Prinzip wie bei Nutzpflanzen.
Dieses Saatgut steht dann für die Renaturierung zur Verfügung. Durch die landwirtschaftliche Praxis könnten jedoch unbeabsichtigt bestimmte Merkmale selektiert werden. Das ist ein Muster, das aus der frühen Domestikation von Nutzpflanzen bekannt ist.
Bei deren Domestikation entwickelten diese Eigenschaften, die durch den Landwirt oder die Landwirtin oder das Anbausystem bevorzugt wurden, verloren aber auch die Anpassung an die Wildnis. Wenn solche Veränderungen bei Wildpflanzen auftreten, die zur Wiederherstellung von Ökosystemen angebaut werden, könnten sie die Leistungsfähigkeit der Pflanzen nach Aussaat in ihrem natürlichen Lebensraum verringern. Das wäre ein Nachteil für den Erfolg der Maßnahmen.
Um zu prüfen, ob das der Fall ist, konzentrierten sich die Forschenden auf 19 häufige Grünlandarten und verglichen in einem Experiment Pflanzen aus wild gesammeltem Saatgut mit Pflanzen aus Saatgut, das bis zu vier Generationen lang in landwirtschaftlichen Betrieben vermehrt worden war. Die Forschenden entdeckten, dass sich einige Pflanzen aus landwirtschaftlich vermehrtem Saatgut tatsächlich weiterentwickelt hatten. Sie waren größer, produzierten mehr Blüten und ihr Blühbeginn war stärker synchronisiert als der ihrer wilden Vorfahren.
„Diese Effekte entsprechen dem, was wir von der Domestikation von Nutzpflanzen erwartet haben“, erklärte der Doktorand Malte Conrady, der das Experiment an der Universität Münster durchgeführt hat. „Allerdings gab es große Unterschiede zwischen den Arten. Nur ein Drittel der Arten veränderte sich, und die Veränderungen waren meist moderat“
Dr. Walter Durka vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle ergänzte: „Wichtig ist, dass der Unterschied zwischen Wild- und Kulturpflanzen umso größer wurde, je länger die Pflanzen kultiviert wurden.“ Er ist Mitverfassender der Studie.
Die Ergebnisse sind wichtig, um die Saatgutproduktion für die ökologische Renaturierung zu optimieren. „Es ist bekannt, dass landwirtschaftliche Praktiken eine starke Selektion bewirken; und wir waren eigentlich überrascht, dass wir nur so moderate Veränderungen feststellen konnten“, erklärte Prof. Dr. Anna Bucharova von der Philipps-Universität, die das Forschungsteam leitete. „Es ist unwahrscheinlich, dass die Veränderungen, die wir in den wenigen kultivierten Generationen feststellen, die Qualität des Saatguts beeinträchtigen. Das heißt, dass das in der Landwirtschaft vermehrte Saatgut für die Renaturierung weiterhin gut geeignet ist.“
Besorgniserregend ist jedoch die Zunahme der Differenzierung mit der Dauer des Anbaus, denn wenn ein Saatgutbestand über viele Generationen hinweg vermehrt würde, könnten die Veränderungen so stark werden, dass sie den Erfolg von Maßnahmen gefährden könnten.
Um die Praktiken der Saatguterzeugung zu verbessern, plädieren die Forschenden dafür, die Anzahl der Generationen zu begrenzen, in denen die Pflanzen kultiviert werden können, ohne dass der Saatgutbestand aus neuen Wildsammlungen wieder aufgefüllt wird. Eine solche Begrenzung gibt es bereits in Deutschland, wo zertifiziertes Wildpflanzen-Saatgut maximal vier bis fünf Generationen lang vermehrt werden darf, aber in vielen anderen Ländern fehlen solche Vorschriften.
Teilnehmende Institute waren neben der Philipps-Universität die Universität Münster, die Eberhard-Karls-Universität Tübingen und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ in Halle. Die Forschung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziell unterstützt.
* pm: Philipps-Universität Marburg