Die Marburger Neurophysik zeigt, wie die Verarbeitung von Sinnesreizen hilft, Streckenlängen zu reproduzieren. Das hat die Philipps-Universität am Montag (9. Januar) berichtet.
Ein Team aus der Marburger Neurowissenschaft hat untersucht, wie das menschliche Gehirn abschätzt, welchen Anteil einer Strecke die jeweilige Person bereits zurückgelegt hat. Die Forschungsgruppe um den Physiker Prof. Dr. Frank Bremmer berichtete im Fachblatt „eNeuro“ über die Ergebnisse.
Verhaltensexperimente zeigen: Menschen sind in der Lage, eine zuvor beobachtete Wegstrecke allein auf der Grundlage visueller Informationen aktiv zu reproduzieren. Wie geht das?
„Wir bewegen uns täglich scheinbar mühelos durch den Raum“, sagte Bremmer. „Wir weichen dabei Hindernissen aus und können zuverlässig abschätzen, wie viel unserer Strecke auf dem Weg zu einem Ziel wir bereits zurückgelegt haben.“
Neurowissenschaftlich betrachtet ist diese Aufgabe aber alles andere als einfach. Zwar weiß die Wissenschaft inzwischen recht gut, in welchen Gehirngebieten die Richtung einer Eigenbewegung verarbeitet und kodiert wird. „Zur Distanz lagen bislang jedoch deutlich weniger Studien vor“, erklärte der Physiker; „insbesondere zur Frage, ob es neuronale Korrelate des Erreichens von Zieldistanzen gibt, und wenn ja, ob diese ein objektives oder subjektives Maß repräsentieren“.
Dieser Frage widmete sich eine aktuelle Studie der Arbeitsgruppe Neurophysik an der Philipps-Universität. Ihre Hauptautorin Dr. Constanze Schmitt testete dazu Versuchspersonen in einer Wahrnehmungsaufgabe, während sie mittels EEG deren Gehirnaktivität maß.
Die Versuchspersonen sahen zunächst auf einem Bildschirm eine simulierte Vorwärtsfahrt über eine Ebene. Dann sollten sie mittels eines Computer-Joysticks ihre Bewegung selber steuern, und zwar genau das Doppelte der zuvor gesehenen Distanz.
„Ziel unserer Studie war es, herauszufinden, ob der Zeitpunkt, zu dem die Probanden die erste Hälfte ihrer selbst gesteuerten Fahrt zurückgelegt haben, also die ursprünglich gezeigte Distanz, von spezifischer Gehirnaktivität begleitet wird“, erläuterte Schmitt. „Zudem wollten wir unsere Vorhersage testen, die für die eigeninduzierte Bewegung generell geringere Gehirnaktivität vorhersagt als für die vom Computer induzierte Bewegung“, ergänzte Bremmer.
Beide Hypothesen wurden bestätigt. Beim Beginn der eigeninduzierten Bewegung fand das Team kleinere Amplituden der sogenannten „ereigniskorrelierten Potentiale“.
„Dieser Befund war erwartet“, legte Schmitt dar. „Er entspricht der Idee, dass Reize, die man selber erzeugt und damit vorhersagen kann, weniger stark im Gehirn verarbeitet werden als unerwartete Reize.“
Zum anderen zeigte sich zum Zeitpunkt des Erreichens der einfachen Distanz eine kurzzeitige Erhöhung der im EEG gemessenen Gehirnaktivität. Bemerkenswerterweise trat diese Aktivitätserhöhung jedoch nur beim Erreichen der subjektiven, nicht der objektiven einfachen Distanz auf.
„Dieses Ergebnis war unerwartet“, führte Bremmer aus. „Die gefundene Aktivierung war zeitlich sehr präzise. Allerdings können wir bislang noch nicht sagen, welche Gebiete im Gehirn für sie verantwortlich sind.“
Die Gruppe will in kommenden Studien – auch in Zusammenarbeit mit den Marburger Kliniken für Neurologie und Neurochirurgie – dieser Frage weiter nachgehen. Die Neurowissenschaften zählen zu den Profilbereichen der Philipps-Universität. Bremmer leitet dort die Arbeitsgruppe Angewandte Physik und Neurophysik.
Der Physiker ist Gründungsdirektor des mittelhessischen Forschungszentrums „Center for Mind, Brain and Behavior“ (CMBB), in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Marburg und Gießen zusammenarbeiten. Außerdem amtiert er als Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs 1901 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Thema „The Brain in Action“, gehört dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs 135 der DFG zum Thema „Kardinale Mechanismen der Wahrnehmung“ an und ist Ko-Sprecher des Clusterprojekts „The Adaptive Mind“ ((TAM), das das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) eingerichtet hat. Die DFG und das Hessische Wissenschaftsministerium förderten die Forschungsarbeit finanziell.
* pm: Philipps-Universität Marburg