Millieustudie Marburg: Daten für Stadtentwicklung und Planung

Eine Milieustudie hat die Stadt vorgestellt. Sie gibt Auskunft über Menschen in Marburg, wie sie leben, was sie wollen, wer sie sind.
Zu den Grundsatzfragen Arbeit, Wohnen, soziale Lage und Lebensgestaltung liegt die erste detaillierte Strukturanalyse für die Universitätsstadt Marburg vor. Auf gut 180 Seiten schlüsselt die Milieustudie für Marburg auf, wer wo und wie in der Stadt lebt, arbeitet, wohnt und am gesellschaftlichen Leben teilhat. Die Milieustudie soll Grundlage für die künftige Stadtentwicklung und Planung sein. Das hat die Stadtverordnetenversammlung (StVV) beschlossen.
„Wir müssen uns immer wieder fragen: Erfüllen wir unseren Auftrag zum Wohl aller Marburger*innen angemessen?“, erklärte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies das Interesse der Stadt Marburg an der Milieustudie. „Verteilen wir die soziale Infrastruktur in der Stadt passgenau danach, was die Menschen wo und in welchem Maß tatsächlich wollen und brauchen?“
Spies ergänzte: „Denn wir sind nicht die Bestimmenden, sondern wir sind Dienstleister.“ Deshalb sei das systematische Wissen um die Wünsche, Bedürfnisse und Entscheidungen, die Menschen aufgrund der einen oder anderen Rahmenbedingung treffen, essentiell wichtig für gute Stadtentwicklung, für Politik und Verwaltung.
Dafür bietet die Marburger Milieustudie mit ihrem großen Daten- und Wissensschatz eine neue „Qualität von Grundlage und einen ungeheuren Fundus, auf den wir noch viele Jahre zurückgreifen“, betonte der Oberbürgermeister. Grundlage werde die Studie für die Kooperative Sozialplanung und quartiersorientierte Steuerung, die sich an Menschen und nicht an den Institutionen orientiere, sowie für die Stadtplanung insgesamt, die Wohnen, Arbeiten, Wirtschaftsentwicklung, sozialer Zusammenhalt, Klimagerechtigkeit und Mobilität integriert bearbeite.
Ein Ergebnis hat die Milieustudie schon direkt nach Fertigstellung gebracht. Das ist die Antwort auf die Frage, ob Marburg eine Milieuschutzsatzung braucht. Das wurde schon mehrmals in den politischen Gremien diskutiert.
Die Studie sieht in einer solchen Satzung keinen Nutzen für Marburg. Stattdessen seien andere Maßnahmen erforderlich, damit es in Marburg genug preiswerten und bedürfnisgerechten Wohnraum gibt.
„Die Studie wird nicht in die Schublade gelegt“, versicherte die Sozialplanerin Monique Meier bei der Vorstellung in der gemeinsamen Sitzung von Bau- und Sozialausschuss. „Wir werden damit arbeiten.“
Beim städtischen Fachbereich Soziales und Wohnen ist Meier die Projektverantwortliche für die Milieustudie. die Stadt hat die Analyse in Kooperation mit dem vhw Bundesverband Wohnen und Stadtentwicklung erstellt. Marburg hat den gemeinnützigen Verband aufgrund seiner Erfahrung gezielt angesprochen und als Partner für die gemeinsame Studie gewonnen.
„Dann folgte über ein Jahr harte Arbeit“, berichtete Meier. „Es ist das erste Mal überhaupt, dass so vielfältige Daten in einer Bandbreite von Universitätszahlen bis zur Kaufkraft in einzelnen Stadtteilen für eine Forschungsarbeit zusammengetragen und analysiert wurden.“
Zum ersten Mal sei in Marburg außerdem mit den sogenannten „Sinus-Milieus“ gearbeitet worden. Ein Milieu ist als Gruppe von Gleichgesinnten definiert. Unterschieden wird beispielsweise zwischen Liberal-Intellektuellen, Konservativ-Etablierten oder sozial-ökologischem Milieu.
Der Bundesverband vhw arbeitet bereits seit 2002 mit „Sinus-Milieus“, um Erkenntnisse beispielsweise für Stadtentwicklungsthemen oder für Bürgerbeteiligung zu nutzen. Er engagiert sich unter anderem durch Forschung im Bereich Wohnen und Stadtentwicklung – mit dem Ziel der „Stärkung der lokalen Demokratie durch Teilhabe und neue Vielfalt“, erklärte Bernd Hallenberg vom vhw-Vorstand in der Ausschusssitzung. Die Milieuforschung helfe, „große und kleine Zusammenhänge zu sehen, die mit anderen Forschungsmethoden nicht so möglich sind“.
Diese „großen und kleinen Zusammenhänge“ sind für die Marburger Studie auf 181 Seiten in zehn Kapiteln mit zahlreichen Fotos, Diagrammen, Tabellen, Grafiken, Statistiken und Schaubildern ausgeführt. Mal wurden sie auf die Stadt konzentriert, mal mit anderen Universitätsstädten ähnlicher Größe ins Verhältnis gesetzt wie zum Beispiel Gießen und Tübingen.
„Ganz klar betonen muss man vorneweg: Marburg hat mit seinem hohen sozialen Engagement, mit der Vielfalt der Angebote für Bürger*innen und damit, wie hier kommunale Demokratie gelebt wird, Maßstäbe gesetzt im Land“, betonte Milieuforscher Hallenberg. Dass es dennoch viel zu tun gibt für „einen ausgewogenen Rahmen“, in dem laut Spies „alle Bürger*innen selbstbestimmt so leben können, wie sie wollen“, zeigte Hallenberg anhand der Studienergebnisse zur sozialen Mischung im Quartier, zu Verteilung verschiedener Milieus innerhalb der Stadt, zum Bedarf an Infrastruktur (wie Bildung, Treffpunkte, öffentlicher Raum, Gastronomie, Kultur, Verkehr, Klima etc.), zur Teilhabe und deren Hürden oder zur Kaufkraft- und Innenstadtentwicklung. Speziell betrachtet haben die Forscher auch das Milieu von Migrant*innen, um deren besonderer Situation und ihren Bedürfnissen Rechnung zu tragen.
Insgesamt wundert wenig, dass auch die Milieustudie den Studierenden eine herausgehobene Bedeutung für Marburg bescheinigt. „Marburg hat eine zukunftsorientierte Grundstruktur“, fasste Hallenberg zusammen. Die Herausforderung liege darin, ihre Milieus, die immerhin rund 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, an Marburg zu binden und „diese zukunftsorientierte Vielfalt zu erhalten“.
Dagegen verzeichnet Marburg vergleichsweise wenig Zuwanderung an ausländischen Fachkräften, hat aber mehr geförderten Wohnungsbau und mehr Wohnheimplätze als ähnliche Unistädte und außerdem die höchste Quote an Ein-
bis Zweizimmer-Wohnungen in Hessen. Auf der anderen Seite leben geflüchtete Menschen in Marburg abgetrennter von der Restbevölkerung als anderswo. Das Preisgefälle bei Wohnraum zwischen Stadt und Umland ist mit über 30 Prozent außergewöhnlich hoch,, die Bevölkerungsentwicklung dagegen weniger dynamisch.
Auffällig am Punkt Soziale Lage in den Bezirken ist, dass die Marburgerinnen und Marburger, die Sozialleistungen beziehen, vor allem in den drei Stadtteilen Richtsberg, Waldtal und Stadtwald wohnen. Insgesamt 7,8 Prozent der Haushalte in Marburg erhalten Leistungen nach dem 2. Sozialgesetzbuch („Hartz IV“). Allein am Richtsberg wohnt knapp die Hälfte aller Kinder der Familien mit SGB-II-Bezug.
Damit die Studie so detailliert Auskunft über die einzelnen Quartiere geben kann, wurden anonymisierte Daten aus 33 statistischen Bezirken in Marburg zusammengeführt – zu Bevölkerungs- und Altersstrukturen, deren Entwicklung und der Bezug von Wohngeld und Sozialhilfe. Dazu kamen Informationen aus städtischen Berichten und Broschüren, Angaben unter anderem aus dem Bildungsbereich, zur Infrastruktur und zum Wohnungsmarkt in die Bestandsaufnahme.
Neben der Stadtverwaltung haben auch regionale Netzwerkpartner Daten für die Studie zur Verfügung gestellt. Insbesondere das Kreisjobcenter Marburg-Biedenkopf (KJC), die Philipps-Universität, die GWH, die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte/Wohnstadt, die GeWoBau und das Studentenwerk haben die Studie mit Zahlen unterstützt.
Schließlich wurden auch noch Interviews durchgeführt. All das fand unter Maßgabe eines detaillierten Datenschutzkonzeptes statt.
Zuvor hatten die zugehörigen Fachabteilungen der Stadt Fragen für den umfangreichen Katalog erarbeitet, der Rahmen und Schwerpunkte der Studie festlegte. Das waren bei den Fachdiensten Soziale Leistungen, Stadtplanung, Altenplanung, Bürgerbeteiligung, Migration und Flüchtlingshilfe beispielsweise Fragen zum Zusammenleben in den Quartieren, zu Herkunftsstrukturen, sozialer Teilhabe, Wohnraumversorgung, Wohnformen, Mietpreisentwicklung, Arbeitsmarkt, Kaufkraft, Milieuschutz, Partizipation und die Ansprache unterschiedlicher Milieus.
Die vhw war 2021 wiederholt in Marburg zu Gesprächen und Austauschrunden mit der Stadtverwaltung, den Gemeinwesensträgern BSF, IKJG, AKSB und dem Studentenwerk. Zudem gab es Videokonferenzen und Telefoninterviews mit weiteren Akteur*innen – vom Ausländerbeirat bis zur Praxis GmbH.
Die Spannweite der Themen reichte von „Migration und Integration“ bis zu „Beschäftigungsförderung in Marburg“. Es gab einen Workshop zur „Milieuforschung“ mit dem Sinus-Institut und dem vhw für Fachplaner*innen und Kooperationspartner*innen der Stadt Marburg. Zwischenergebnisse wurden der Steuerungsgruppe „Milieustudie“ und dem Arbeitskreis „Städtische Planung“ zur Verfügung gestellt.
Die Studie ist zum Jahresbeginn 2022 mit dem nun vorliegenden Endbericht abgeschlossen worden. Nach der öffentlichen Vorstellung der Ergebnisse und den Empfehlungen des vhw ist für den Herbst 2022 ein zweiter Workshop geplant, um auf Grundlage der Ergebnisse weiter zu arbeiten.
Die Marburger Milieustudie sowie weitere Dokumente zum Thema sind online abrufbar unter www.marburg.de/sozialberichterstattung.

* pm: Stadt Marburg

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