„Ich will da nicht hin, aber ich muss“, las Willi Schmidt aus „Verschickungsjunge“ vor. Sein Roman erzählt von seinen Erlebnissen, als Kind in ein Heim verschickt zu werden.
Am Dienstag (14. Juni) gab Schmidt eine Lesung in der Waggonhalle. Er berichtete von den sogenannten „Verschickungskindern“, die früher wegen Krankheit oder Untergewicht für mehrere Wochen ans Meer oder in die Berge geschickt wurden, um wieder gesund zu werden.
Schmidt hatte während seines ersten Heimaufenthalts in Karlshafen keine guten Erfahrungen. Er musste alle seine Besitztümer abgeben, er wurde – auch im Intimbereich – schmerzhaft von einer Nonne gewaschen, und wenn er anfing zu weinen bekam er eine Ohrfeige.
Alle Jungen in dem Heim bekamen des Nachts Ohrfeigen, „bis alle ihr Weinen ins Kissen gedrückt haben, bis es verstummt“, berichtete er. Auch stolpern beim Spazieren, sowie reden oder schmatzen beim Essen wurde mit Schlägen bestraft.
Schmidt erzählte von dem Heim als sei es ein Gefängnis, eine Welt „in der nur Kontrolle, Strafe und Fügsamkeit existieren“. Damals versuchte er, nicht aufzufallen, so zu tun, als sei er gar nicht da. Er hatte Heimweh.
Seine zweite Verschickung erfolgte drei Jahre später, nach St. Peter-Ording. Auch dort wurden die Betreuerinnen „Tanten“ genannt, aber es waren keine Nonnen. Er mochte die meisten nicht, nur Tante Bärbel.
Tante Bärbel war immer nett zu ihm. Er musste sich nie verstellen. Da er ein recht sensibler Junge war, wurde er oft „Mädchen“ genannt, und konnte sich nicht an die anderen Jungen anpassen.
Schmidt schilderte außerdem ein Erlebnis in der Dusche. Er hatte Tante Bärbel durch einen Türspalt beim Duschen beobachtet, schlich sich von hinten an sie an und umarmte sie. Sie ließ es zunächst zu, dann stieß sie ihn weg. Als der „Chef“ des Heims die beiden erwischte, flüchtete Schmidt, konnte aber durch den Türspalt beobachten, wie der Chef die frierende und nackte Bärbel angrinste.
Auch berichtete Schmidt von einem anderen Jungen, der nur „der Professor“ genannt wurde. Zuerst war er während des Unterrichts genervt von diesem Jungen, weil er viel wusste. Später wollte er jedoch mit ihm befreundet sein. Sie teilten sich ein Zimmer, mit vier anderen Jungen. Während einer Gewitternacht hielten sie sich an den Händen.
Auch dort hatte Schmidt Heimweh. Als er seinen Eltern davon schreiben wollte, wurde sein Brief konfisziert. Der Chef diktierte ihm einen neuen Brief, in dem nur Gutes stand.
Seine „echten“ Briefe kamen nie bei den Eltern an. „Ihr schickt mich nicht nochmal weg?“, fragte er sie als er wieder zu Hause war. Er müsse nicht, wenn er nicht wolle, antworteten sie.
Bei der Lesung war ein weiterer Mann aus dem Marburger Verschickungskinder Verein dabei. Torsten, der seinen Nachnamen nicht veröffentlichen will, berichtete, dass er mit vier Jahren wegen starkem Asthma für sechs Wochen nach Büsum an der Nordsee geschickt wurde.
Am schlimmsten war für ihn der Kontaktabbruch mit den Eltern gewesen. „Man denkt, das geht hier nie zu Ende“.
Mit acht Jahren wurde er ein weiteres Mal verschickt, diesmal nach Bad Reichenhall in die Berge. Dort litt auch er unter strenger Briefzensur. Ein vorgegebener Text an die Eltern wurde von einer Tafel abgeschrieben. Die Briefe der Mutter erhielt er alle geöffnet.
Die Lesung hatte viele Interessenten angezogen, viele im Publikum waren zwischen den 60er und 80er Jahren selbst verschickt worden. Über ein Dutzend meldeten sich mit eigenen Erfahrungsberichten zu Wort.
Einige hatten ganz andere Erfahrungen als Schmidt und Torsten gemacht. Zwei Männer berichteten davon, wie schön es für sie war, das Meer zum ersten Mal zu sehen. Für Einen war es schön, mal von daheim wegzukommen und etwas anderes zu sehen.
Ein weiterer Mann berichtete von seiner Tätigkeit als Betreuer in einem Verschickungsheim. Sein Ziel war es vorrangig, den Kindern ein schönes Erlebnis zu schaffen. Viele Eltern konnten sich keinen Urlaub leisten, für die Kinder war die neue Umgebung also etwas außergewöhnliches.
Viele andere schlossen sich allerdings auch den Berichten über schlimme Erfahrungen an. Vor allem das Heimweh war für die meisten eine große Schwierigkeit.
Eine Frau berichtete, dass ihre Mutter geweint habe, als sie aus der Verschickung wiederkam. So wesensverändert sei sie gewesen.
Eine weitere erinnerte sich daran, dass Kinder mit Ekzemen nachts ans Bett gefesselt wurden, um sich nicht zu kratzen. Auch sie litt darunter, nicht mit den Eltern telefonieren zu dürfen.
Für eine der Besucherinnen der Lesung bedeutete die Verschickung langanhaltende traumatische Erinnerungen. Aufgrund eines Missverständnisses wurde die 10-jährige zur Strafe stundenlang in Unterwäsche in den eiskalten und dunklen Keller gesperrt, bis der Hausmeister sie befreite. Bis heute beeinträchtigt sie dieses Erlebnis.
Im Publikum gab es außerdem eine langanhaltende Diskussion zu den Beweggründen der Eltern. Eine Frau hielt daran fest, dass die Eltern es hätten besser wissen müssen. Viele waren im Krieg groß geworden. Aus eigenen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung sowie eigener Verschickung hätten sie besser schließen müssen, behauptete sie.
Auch einige Mütter meldeten sich zu Wort. Sie hätten ihr Kind mit vier Jahren nie weggeben können, sagten sie.
Viele verteidigten ihre Eltern jedoch. Das Kind soll was erleben, es soll gesund werden, mal was Gutes zu essen bekommen und an die frische Luft, waren die Argumente. Außerdem wurde ärztliche Autorität nicht hinterfragt, wenn die Verschickung einer entsprechenden Diagnose zugrunde lag.
Auch die Unwissenheit der Eltern und dass es noch keine Trauma-Forschung gab, wurden als Argumente angeführt. „Es hat niemand über die Psyche gesprochen, über die Psyche von Kindern schonmal gar nicht“, sagte eine Besucherin.
*Laura Schiller