Über den Perspektivwechsel: Quer Denken, schwer Denken oder gar nicht denken

Die psychotherapeutische Praxis befindet sich zwischen Nordend und Bahnhofsviertel in einer der letzten – nicht gentrifizierten – „Schmuddelecken“ Marburgs. Passend zum trübe verhangenen, grauen Dezemberwetter changiert auch die Farbe der Hauswände zwischen altweiß und mittelbeige.

Im dritten Stock eines unscheinbaren, abgetakelten Vorkriegshauses befinden sich die Räume von Dr. K., der dort seit 30 Jahren als Facharzt für psychosomatische Medizin und Tiefenpsychologie praktiziert. Der erste Teil unseres Gesprächs behandelt die sogenannten „Querdenker“.
akk: „Was mich heute zu Ihnen führt, Herr K., ist die Gruppe der Impfverweigernden, querdenkenden und verschwörungsgläubigen Personen, denen im Zuge der Coronapandemie eine Menge Raum in den sozialen und sonstigen Medien eingeräumt wird. Was charakterisiert – Ihrer Meinung nach – Persönlichkeiten, die solchen Ideen anheim fallen?“
Dr. K.: „Soweit ich das aus meiner Praxis und dem privaten Umfeld beurteilen kann, findet man mindestens vier Grundtypen: Erstens gibt es da die narzisstisch geprägte Persönlichkeit, mit geringem Selbstwertgefühl und bis jetzt auch wenig Erfolg im Leben. Typischerweise in der Schule schon hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben, wo der Lehrer den Eltern sagt: „Er ist ja nicht dumm. Er könnte ja, wenn er wollte.“ Eher farblos biedert er sich immer den Alphatypen an.
Sein Fortkommen in Ausbildung und Beruf gründet darauf, dass er wiederum schwächere – leicht manipulierbare – Personen ausnutzt, schummelt, aufschneidet oder sich mit fremden Federn schmückt. Die scheinbare Zugehörigkeit zu einer auserwählten Gruppe, der Geheimwissen zur Verfügung steht, und in der das „Dagegensein“ zum Selbstzweck wird, erlebt er zum ersten Mal als Zugehörigkeit und Aufwertung des eigenen Selbst, ohne dafür nennenswerte Leistungen erbringen zu müssen oder ein persönliches Risiko einzugehen.
Diesen Typus des dauergekränkten Mitläufers wie im Roman „der Untertan“ von Heinrich Mann finden wir im Arbeitsleben durchgängig in allen Institutionen und Unternehmen bis in die höchsten Führungsebenen. Wirtschaftsökonomen und Betriebspsychologen bereiten sie deswegen Kummer, denn wenn diese 20 % der Belegschaft alle auf einmal zu Hause blieben, würde die Produktivität gleich hoch bleiben und sich das Betriebsklima schlagartig verbessern.
Die zweite Gruppe nenne ich dagegen gerne die „verkappten Revoluzzer“. Während Typ 1 die vorhandenen Strukturen erfolgreich für sich auszunutzen versteht, hegt Typ zwei aufgrund seiner Angst vor Kontrollverlust ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Autoritäten außerhalb seiner selbst. Dazu zählen hier im Westen Deutschlands – auch in Marburg – interessanterweise auch früher fest verortete Links- und Grünenwähler, die sogenannte „alternative Szene“Anhängende der Esoterik und Naturheilkunde, aber auch enttäuschte Konservative, die gedanklich noch im 19. und 20. Jahrhundert leben und sich in einer globalisierten und digitalisierten Welt hilflos und überfordert fühlen.
Drittens gibt es dann allerdings auch das Produkt der letzten 40 Jahre neoliberaler Ideologie, die „Superindividualisten“. Die beurteilen die Welt um sich herum nur aus ihrer persönlichen Egoblase heraus. Sie sind weder in der Lage, sich verstandesmäßig und emotional in andere Menschen hineinzuversetzen oder eine objektive, neutrale Perspektive außerhalb von sich selbst einzunehmen. Also weder die Gesamtsituation noch die Konsequenzen ihres Handelns für die Gesellschaft im Blick zu behalten. Als Beispiel dafür fällt mir der gern zitierte AFD wählende Ostdeutsche ein, der sich die DDR zurückwünscht, weil er persönlich damals mehr finanzielle Sicherheit hatte.
Die vierte – am schwierigsten zu erreichende – Gruppe, sind für mich die „Abergläubigen“. Dies mag an fehlenden Bildungsangeboten oder der Prägung durch das familiäre Umfeld liegen, Dass sie nach spirituellen Führern, geistigen Gesetzmäßigkeiten und Zugang zu universellen Quellen von Macht und Energie suchen und dafür 300 Jahre Aufklärung erfolgreich ignorieren. Wo früher in unseren Breitengraden das Christentum mit kirchlichen und göttlichen Gesetzen einfachen Gemütern eine Heimat für ihre Ängste, Sorgen, Nöte und Wünsche anbot, herrscht heute ein spirituelles Vakuum.
Dieses wird gewinnbringend von allen möglichen Dienstleistern bevölkert, die auch mit Hilfe der sozialen Medien Heilsversprechen verkaufen.
Problematisch dabei ist allerdings die Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Angebote. Während früher die klaren Werte von Gut und Böse der Kirche halfen, ein Gemeinwesen zusammenzuhalten, sind die Angebote heute soweit individualisiert, dass jeder sich seinen Glaubenscocktail selbst zusammenmixen kann, wie es ihm gerade am besten gefällt. Entwicklungspsychologisch problematisch sehe ich dabei diese frühkindlichen Versorgungsansprüche an die „höhere Macht“, die einen aus jeglicher Eigenverantwortung enthebt. Religion wird nur noch konsumiert, wobei ich auch sehr viel Suchtverhalten erkennen kann. Sucht basiert ja auch auf der fälschlichen Annahme, durch Substanzen, Tätigkeiten oder den Besitz von Objekten einen Zustand der Sicherheit und Schmerzfreiheit erreichen zu können.
Da dies eine unerfüllbare Illusion ist, wird paradoxerweise immer mehr für diese fixe Idee geopfert, je länger der erwünschte Seelenfrieden ausbleibt. Ist man erstmal in dieser Abhängigkeit gefangen, werden auch schnell moralische Tabus wie faschistische Denkweisen, Antisemitismus oder  die bedrohliche aggressive Radikalität gegenüber allen Andersdenkenden gebrochen.“
Inwieweit sich diese Typen in seiner Patientenschaft wieder finden, wie man mit ihnen umgeht und welche außergewöhnlichen „Corona Schicksale“ aus Marburg in seine Praxis kamen und ihn persönlich besonders beeindruckt haben, erzählt Dr. K. im 2. Teil dieses Interviews. Es wird demnächst auf marburg.news veröffentlicht.

* Anna Katharina Kelzenberg

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