Wir sitzen in einem kleinen gemütlichen Café. Marielle – die sich lieber Mariechen rufen lässt – bringt uns Kakao und Kuchen.
Außer ihr servieren, kassieren, kochen und backen dort noch ein halbes Dutzend Menschen mit Behinderung. Ich treffe mich mit 3 jungen Kund*Innen und einer Mitarbeiterin aus inklusiven Einrichtungen in Marburg.
Gemeinsam ist Mariechen, Stella und Lutz, dass sie möglichst selbstbestimmt leben und arbeiten wollen und dabei mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten wahrgenommen werden. Ihre verschiedenen Wohnformen bilden ein breites Spektrum der Möglichkeiten ab. Mir erzählen sie, wie die Corona-Krise und die Pandemie ihr Leben verändert haben.
Danach kommt noch die 56-jährige „Heilerziehungspflegerin“ Gisela zu Wort. Sie organsiert im Hintergrund des Cafés mit.
Der 26-jährige Lutz ist ein großer, stämmiger, junger Mann mit kurzen blonden Haaren. Einer schicken Brille im freundlich blickenden Gesicht und modern Sneakern an den Füßen. Ihm würde niemand auf der Straße sein Handikap ansehen. Er spricht langsam und bedächtig.
Er wählt seine Worte sehr genau. Man merkt ihm an, dass er über seine Antworten zu meinen Fragen erst gut nachdenken möchte, bevor er sich äußert: „Weil ich bei meiner Familie zu Hause auf dem Dorf wohne, habe ich dort erst nicht viel von Corona mitbekommen. Als vorletzte Ostern Alles zu hatte, konnte ich den ganzen Tag Skateboard auf der Dorfstraße fahren, ganz ohne Autos. Das war cool!“
Außer den Masken, die er tragen muss, wenn er mit dem Bus zur Arbeit fahren will, hat ihn nichts gestört. „Als meine große Schwester schwanger war, sind wir alle besonders vorsichtig gewesen, wenn sie uns besucht hat. Ich fand es sehr doof, dass wir Oma und Opa zu Weihnachten nicht sehen konnten und auch Halloween, Weihnachten und Silvester nicht so schön feiern durften, wie ich es gewohnt bin.“
Auf der Arbeit ist Lutz in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfBM) in der Montageabteilung. „Wir bauen kleine Dinge für für verschiedene Firmen zusammen und verpacken Sie dann für den Versand. Dort ist immer Action angesagt. Wir husteten zum Spaß rum und riefen dann: Corona, Corona, Corona!““
Das gab Ärger. „Das macht ihr bitte nicht mehr“, sagten die Betreuer. Das machte bei ihnen keine gute Stimmung.
„Da hat sich schon viel geändert, was mich gestört hat. Zum Beispiel mussten wir uns auseinandersetzen, weiter weg voneinander, sodass wir uns nicht mehr unterhalten konnten. Später mussten wir trotzdem auch alle Masken am Arbeitsplatz tragen und uns regelmäßig testen lassen, außerdem natürlich immer die Hände waschen und einsprühen zwischendurch.“
Lutz findet es „blöd, zur Begrüßung und zum Abschied nicht mehr umarmen zu dürfen oder auch mal freundschaftlich Boxen, nicht mal give-me-five-machen durften wir. Wir mussten uns alle gegenseitig dauernd erinnern: Halt! Stop! Corona das darfst du nicht!“
Wie schnell er sich aber nach ein paar Wochen dann daran gewöhnt habe, findet Lutz „Schon komisch. Für mich und meine Kolleg*Innen ist die Arbeit aber gleich geblieben. Das Putzteam hatte da mehr Pech. Die mussten immer unterwegs sein und alles wischen und einsprühen. Türklinken, Treppengeländer, Aufzug und Tische.“
Die Waschräume mit den Toiletten mussten sie besonders gründlich putzen. Sie hatten viel mehr zu tun als früher. Wenn sie an einem Ende fertig waren, konnten sie gleich wieder von vorne anfangen.
Im Sommer waren die Werkstätten auch ein paar Wochen ganz geschlossen. „Mir war langweilig zu Hause bei meinen Eltern. Am Tag waren die nicht da, weil die beide arbeiten mussten.“
Mariechen unterbricht ihn: „Mir war nicht langweilig! Ich war voll genervt von meinen ganzen Mitbewohner*Innen. Die hingen den ganzen Tag zuhause rum.“
Mariechen hat rote Haare, leuchtend blaue Augen und ist ziemlich übergewichtig: „Darum war ich auch froh, dass ich eine kleine Wohnung für mich gefunden habe und mit Hilfe meiner Betreuerin. Dahin konnte ich vor einem Jahr umziehen. Alleine wohnen, cool! Darauf bin ich sehr stolz.“
Betreuung braucht sie nur noch montags und freitags. „Da kommt jemand vorbei und kümmert sich mit mir um mein Zeug.“
Sie grinst mich an und legt ihr Handy beiseite, auf dem sie die ganze Zeit gespielt hat, während wir Übrigen uns unterhalten haben. „Ich fand es voll doof, dass mein Café hier, wo ich bediene, auch sechs Wochen geschlossen war. Mir hat die Arbeit dort gefehlt. Ausschlafen hat nur am Anfang Spaß gemacht. Nix hat meinen Tag geregelt. Bin voll fett geworden in der Zeit. Ich habe 15 Kilo zugenommen vom vor der Plaisy sitzen.“
Damit meint sie ihre Spielekonsole. „Nur rumsitzen, Süsigkeiten futtern und Netflix schauen. Dann habe ich Ärger mit meiner Betreuerin bekommen, weil ich noch im Handy zu viel gedaddelt und um Geld gespielt habe. Das muss ich jetzt in Raten zurückzahlen. Meine Handy-Rechnungen sind auf einmal so hoch geworden. Mein Handy war gesperrt worden. Die Leute die in den Wohngruppen zusammen saßen konnten ja auch nichts unternehmen, weil die Betreuer*Innen krank waren oder oft zu wenige da sind.“
Nach Recherchen der Redaktion war es schon vor Corona so, dass die Teams in den Wohngruppen ständig unterbesetzt waren. Nach Auskunft der dort Arbeitenden lag das an den überdurchschnittlich vielen in Teilzeit Beschäftigten sowie dem relativ hohen Krankenstand Bei den Vollzeitkräften. Diese Lücke konnte auch nicht durch Vertretungskräfte ausgeglichen werden, da sie nicht vorhanden sind.
Zudem gibt es grundsätzlich zu wenig geeignete Bewerbungen für diesen verantwortungsvollen Beruf. Viele Studierende der Sozialwissenschaften arbeiten dort im Nebenjob, was aber einhergeht mit einer Fluktuation, die sehr hoch war.
Begrenzte Einsatzmöglichkeiten ergeben sich zum Beispiel für Nachtdienste oder in der vorllesungsfreien Zeit, wenn die Studierenden Marburg verlassen. Außerdem wurden für die zusätzlichen Stunden in der Gruppenbetreuung, während die Werkstätten geschlossen waren, keine zusätzlichen Betreuungspersonen eingestellt.
Mariechen erklärt: „Noch mehr genervt waren die die zu ihren Eltern in ihr richtiges zu Hause obwohl sie das gar nicht wollten. Das kann Stella mal selbst erzählen.“
Mariechen stupst ihre Tischnachbarin an, die bis jetzt schweigend dem Gespräch zugehört hat. Stella ist Anfang 20, eine kleine – ein wenig schüchtern wirkende – Frau in einem langen, farbenfrohen Strickkleid. Mit ihrer Kurzhaarfrisur in Blau und Goldton gefärbt sieht sie aus als ob sie ein Mangafan wäre. Zum Gehen ist sie auf einen Rollator angewiesen.
Sie nickt und schluckt das letzte Stückchen Rüblikuchen hastig herunter: „Mama hat mich sogar nach Hause geholt, als die Werkstatt zumachen musste wegen einem Coronakranken, den die in der Nachbargruppe hatten. Bei uns ist zwar keiner krank geworden, trotzdem mussten wir drei Wochen in Quarantäne. Dann also richtig nach Hause, nicht in den Wohnungen zusammenbleiben.“
Wer kein Zuhause mehr hatte, musste in den Wohngruppen in seinem Zimmer bleiben. Zeitpläne für Dusche und Waschmaschine wurden gemacht.
„Das Essen wurde vom Lieferdienst gebracht; und jeder ist alleine auf sein Zimmer, damit man sich nicht begegnete. Wir durften nur den Betreuern öffnen, wenn die das Essen verteilt haben. Mein Zimmer ist gleich bei der Küche, Das war super. Bei Sirko, der am Ende des Flures wohnt, war das Essen nämlich immer schon kalt. War echt schwer für die Leute, die kein eigenes Zuhause mehr hatten und niemand hat sie abgeholt.“
In Stellas Gruppe sind zwei Leute krank geworden und mussten dann auch allein bleiben. „Obwohl sie den kranken Typ, der Alle angesteckt hat in der Nachbargruppe, gar nicht kannten und gar nichts mit dem zu tun hatten. Vielleicht haben die ja heimlich Helloween gefeiert bei dem.“
Ddas war nämlich zu der Zeit. „Wenn wir die BetreuerInnen fragten, wann es denn mal wieder los gehen kann mit der Werkstatt, sagten die bloß was wie: Ja, wir öffnen, wenn Corona vorbei ist, aber wann das ist, können aber auch wir genau nicht sagen. Zum impfen durften wir dann alle wieder in ihre Werkstatt. Das war so aufregend. Das Impfteam kam mit den wertvollen Zauberspritzen extra zu uns. (Anm d. Red. Menschen in Einrichtungen und die im Kontakt mit ihnen Arbeitenden wurden alle mit Biontech geimpft) Früher als die normalen Leute dran mit dem Pieksen waren, die ein halbes Jahr warten mussten, weil wir ja behindert sind.“ Sie lächelt glücklich.
Da jubeln Lutz und Mariechen gleich mit. Tassen werden darauf erhoben und fröhlich klierrend angestoßen. Wenn nur mal Alle so stolz auf ihre Impfung wären, schießt es mir durch den Kopf.
„Nun ja, ganz so einfach war es aber nicht für Jeden“, ergänzt Gisela, die sich mit einer Tasse Kaffee zu uns gesetzt hat. Sie ist die Heilerziehungspflegerin, die für das inklusive Bistro verantwortlich ist.
Inzwischen haben sich die Tische um uns herum geleert. Die sechs dort beschäftigten jungen Menschen mit Behinderung sind je nach ihren Fähigkeiten und Aufgaben dabei, den Laden aufzuräumen und zu schließen. Tische werden abgewischt und desinfiziert, Kuchen aus der Kühltheke in den Kühlschrank geräumt, Geschirr zur Spülmaschine gefahren.
Die Musik ist ein wenig lauter gedreht worden; und es herrscht allgemeine Aufbruchstimmung. Wir dürfen nun exklusiv im inklusive Café sitzen bleiben und hören, was Gisela zu berichten hat: „ich bin als Heilerziehungspflegerin seit 20 Jahren für diese Einrichtung tätig. Erinnern wir uns, als es mit dem Impfung losgeht, hat ja sogar unser Bundesminister für Gesundheit Herr Spahn komplett diejenigen Personen vergessen, die nicht in Heimen betreut werden. Unsere schwerbehinderten Kund*Innen. die bei ihren Eltern oder selbstständig mit Assistenz in einer eigenen Wohnung leben waren ihm gar nicht bekannt. Darum wurden sie in der Planung der mobilen Impf-Teams schlichtweg vergessen. Obwohl sie ja wesentlich mehr Kontakte haben als Personen, die in einem Pflegeeim oder einer Einrichtung leben.“
Allein das Assistenzteam einer Person, die 24 Stunden an sieben Tagen die Woche Assistenz benötigt, kann ja schon um acht bis zehn Personen umfassen. Dazu kommen noch Haushaltshilfen, Krankengymnast*Innn Ergotherapeut*Inn sowie die Kollegi*Innen auf deren Arbeitsstelle, falls die Person erwerbstätig ist und Welche vorhanden sind.
„Damit war es dringend erforderlich, gerade solche Personen priorisiert zu impfen, damit sie weiterhin die Versorgung und Betreuung bekommen, die sie im Alltag dringend benötigen. Dafür war aber ein wochenlanger Kampf im Internet notwendig. Die Mobilisation vieler Unterstützenden, die Petitionen geschrieben, Artikel auf social Media gepostet, Interviews mit der lokalen Presse geführt und sich zu TV-Auftritten bereit erklärt haben.“
Als dann Eilanträge bei Amtsgerichten wie vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main zugunsten einer sofortigen Impfung der Klagenden verhandelt wurden und das durch die Medien ging, hat die Ständige Impfkommission (StIKo) Personen mit erhöhtem Pllegebedarf, Ihre Angehörigen und ihr Pflegetam in die Impfgruppe II hocfhgestuft und die Mäglichkeit für Anträge auf Einzelfallentscheidungen geschaffen. „Ich habe allergrößten Respekt und Hochachtung vor den Menschen mit Behinderung, welche für diese lebensnotwendige Kampagne ihr Gesicht in die Kamera gehalten haben und somit eine ganze Gruppe von Menschen sichtbar gemacht haben, die ansonsten offenbar immer noch kaum wahrgenommen wird in unserer Gesellschaft.“
Gisela fährt fort: „Im Gegensatz zu den vielen Skeptikerinnen in den Pflegeberufen in den Altenheimen und den Krankenhäusern liegt die Impftquote bei unseren Beschäftigten bei nahezu 90 % ebenso wie bei unseren KundI*nnen. Es scheint doch das persönliche Verhältnis zu einer vulnarablen Person ausschlaggebend zu sein, dass man mit einer Impfung das Leben seiner Schützlinge retten kann. Siie sind durch ihre Erkrankungen wahrrnehmbar näher an Komplikationen und der Sterblichkeit durch die Corona Infektion dran sind als durchschnittliche, gesunde Menschen. Unsere Kund*Innen können ja die lebensnotwendigen Kontakte zum Assistent*Innenteam sowie zu Ärzt*Innen und Pflegenden nicht einfach vermeiden während eines Lockdown. Weil sie eben – wie gesagt – dringend notwendig darauf angewiesen sind. Ich hoffe dass sich diese hohe impft-Bereitschaft der Mitarbeiter*Iinnen und auch die niederschwelliege Zugänglichkeit zu Impf – und Boosterterminen weiterhin für unsere Kunden*Innen fortsetzt. Schlicht und ergreifend kann ihr Leben davon abhängen, vor allem jetzt wenn schon über Triage im Krankenhaus gesprochen wird. Mir wird da Angst und bange, wenn ich allendhalben höre, der Impfstoff zhum Boostern wird knapp. Das ist kein schönes Thema, Was ich auch versuche von meinen jungen Kundinnen im Café und in den Gruppen so weit wie möglich fern zu halten. Aber es gibt ja bereits diese Petition auf change org. In der eine mehrfach behinderte Juristin eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht anstrebt. Sie kämpft darum, dass dies juristisch eindeutig geregelt wird und nicht im Ermessen von zufällig diensthabenden Behandelnden liegt, wem welche medizinische Versorgung noch zusteht und wem, sie versagt wird. Wenn nur ein Intensiv Bett frei ist und ein gsunder, ungeimpfter 30-Jähriger, konkurriert mit ihr um dieses Bett. Mit ihr, einer 50-jährigen Schwerstmehrfachbehinderten, die aufgrund ihrer Lähmungserscheinungen sowieso schlechtere Chancen an einer Beatmungsmaschine hätte diese Prozedur zu überleben? Dann ist doch ziemlich klar, dass die Ärzteschaft sich in dieser Situation für den jüngeren Patienten entscheiden wird. Faktisch ist es so dass, diese ungeimpfte Person, das Leben einer schwerstbehinderten Person gerettet hätte, wenn sie sich hätte impfen lassen. Gar keinen schweren Verlauf bekommen und nicht ins Krankenhaus gemusst hätte. Denn dann wäre diese Triage Situation überhaupt nicht erst entstanden. Diese Menschen, die gegen die Impfung sind, scheinen noch nie wirklich schwer krank gewesen zu sein. wer einmal länger ins Krankenhaus musste wird gerne diesen Pieks nehmen um das zu vermeiden. Dann diese unrealisitschen Ideen von irgendwelchen Expert*Innen: Vulnerable Menschen sollten doch einfach zuhause bleiben um sich selbst zu schützen! Na, bravo, dann wäre inklusiv aber ganz schön exclusiv!“
Sie steht auf und und packt die Kasse vom Tresen ein. Wir wendenn uns Alle zum gehen: „Vielleicht sollte man Querdenkende und Impfmuffel mal hier in das Café einladen und sich 2 Stunden mit unserer Kundschaft unterhalten lassen, um eine persönliche Ebene herzustellen. Wenn man ihnen dann sagt: So und alle diese netten, aufgeschlossenen und sympathischen Menschen könnten nächste Woche schon alle daran sterben, dass DU nicht geimpft bist. Aber wir sind hier keine Zirkusattraktion Zu soviel Denkarbeit sollten geistig gesunde Menschen schon selber fähig sein!“
Es ist Advent. Draußen wird die Weihnachtsbeleuchtung angeknipst. Es ist ein bunter Schlitten mit Rentieren und einer Santa Claus Figur, die vorne sitzt. Die Päckchen darauf leuchten in verschiedenen Farben. Sie blinken dabei abwechselnd.
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Das Café wird von außen abgeschlossen. Wir gehen zusammen in Richtung Bushaltestelle. Kalter Nieselregen fällt.
Nächste Woche soll es Schnee geben. Ich stelle mir vor, diese bunten Geschenke wären alles Impfungen, die die Menschen fröhlich annehmen, die sie gerade jetzt am meisten brauchen.
Alls wir uns verabreden, kurz vor Ostern nochmal miteinander zu sprechen, fühle ich mich beklommen. Ich frage mich, wer von den Menschen, die ich heute kennen lernen durfte, bis dahin an Covid 19 erkrankt gewesen sein wird. Wie sie dies überstanden haben werden. Was noch auf uns an Corona-Mutationen und Einschränkunen zukommt?
Ich wünsche mir, dass Alle dann noch am Leben und gesund sind. Jeder Mensch, der sich jetzt impfen lässt, kann die Chancen für Alle verbessern.
* Anna Katharina Kelzenberg