Schäden durch Autos: Stadtplaner Jan Gehl zu Gast in Marburg

„Den Menschen an die erste Stelle der Stadtplanung setzen“ möchte Planer Jan Gehl. Üüber 100 Gäste folgten seinem Vortrag im KFZ.
„New York, Shanghai, Melbourne, Moskau and now Marburg“. Mit diesen Worten begrüßte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies vor mehr als 100 Gästen im nach 3G-Regeln gefüllten Kulturladen KFZ den international bekannten Stadtplaner Jan Gehl als den Mann, der bedeutende Städte grundlegend umgestaltet hat. „Den Menschen an die erste Stelle der Stadtplanung setzen“, beschrieb der 85-jährige Gehl in Marburg dabei sein „Cities for People“-Konzept.
Für die Zukunftsreihe „Marburg800 weiter denken“ hatte das Stadtjubiläum den Architekten und mehrfachen Ehrendoktor für einen dreitägigen Besuch in Marburg zum Jubiläumsschwerpunkt „Marburg erfinden“ eingeladen. Den Abend und Vortrag eines gut aufgelegten Referenten im KFZ verfolgten zusätzlich im Livestream noch einmal 60 Menschen.
Bei seiner Begrüßung nahm Spies gleich auf die Ideen des renommierten Gastes Bezug, der den Begriff von der Stadtplanung nach „menschlichem Maßstab“ („human scale“) weltweit geprägt hat. Darauf gelte es sich zu konzentrieren, sagte Spies. Es gehe um Plätze, an denen Menschen sich willkommen und wohl fühlen, und zugleich darum, zu fragen, wo sie Unbehagen spüren, um das zu verändern.
„Gute Städte für das 21. Jahrhundert sind Städte, in denen Menschen ein glückliches Leben führen“, betonte Gehl. Was sich zunächst selbstverständlich anhört, beschreibt ein grundlegendes Umdenken in der Städteplanung, für das der Autor zahlreicher Bücher mit seiner Arbeit seit 60 Jahren in Theorie und Praxis steht.
Marburgs prominenter Gast aus Dänemark erklärte das mit einem geschichtlichen Exkurs : Während historische Städte noch aus der „Ich-Perspektive“ – für den Menschen als laufendes und soziales Wesen –
geplant worden seien, das sich für andere interessiert, sei dieses Planungsmodell mit dem Modernismus seit den 20er und 30er-Jahren sowie der „Autoinvasion“ der 60er-Jahre über Bord geworfen worden. „Die Stadt sollte nun eine effektive Maschine sein statt eine Stadt der Räume für die Menschen“, erinnerte Gehl.
„Der Fokus hat sich verschoben und richtete sich nur auf Objekte und die Mobilität, die dazu dienen zu schlafen, zur Arbeit zu gehen und zurück“, erklärte der Stadtplaner. Die Räume zwischen den Gebäuden – die Treffpunkte – waren keine Grundlage der Planung mehr – obwohl seit Jahrhunderten bewährt.
„Was passiert mit den Kindern, was, wenn Du alt wirst?“, fragte Gehl. „Wo gehst Du hin, wenn Du anderen Menschen spontan begegnen willst?“ All das habe damit keine Rolle mehr gespielt.
„Das soziale Leben wurde vergessen“, skizzierte es Gehl. „Aber es geht genau darum zu fragen, wie wir besser für die Menschen sorgen können. Die Stadtplanung muss ihnen zeigen, dass sie willkommen sind, sie zum Bleiben und Verweilen einladen.“
Gehl plädierte für nachhaltige, gesunde, lebenswerte und menschenfreundliche Städte, in denen es sich gut alt werden lässt. Dafür müsse die Stadtplanung Lösungen anbieten. In den letzten 50 Jahren der Stadtplanung sei alles dafür getan worden, „die Autos glücklich zu machen, nicht die Menschen“, kritisierte Gehl.
„Eine Tonne Stahl auf vier Gummireifen für jeden Menschen“ sei in dichten Städten keine gute Idee, erklärte der erfahrene Planer. Zumal die Autos zu 90 Prozent stünden und sich nicht bewegten. „Dafür gibt es in den Städten keinen Platz“, bemerkte er. „Viel mehr brauchen wir geteilte Nutzung“, erklärte er.
Gehl ist emeritierter Professor für Städtebau an der Royal Danish Academy of Fine Arts und Autor zahlreicher Bücher zur Stadtplanung. Mit „Gehl Architects“ hat er selbst Städte wie London, Melbourne, Sydney, Amman, New York und Moskau nach dem Konzept „Cities for People“ fußgänger- und radfreundlich umgestaltet sowie Räume zum Aufenthalt geschaffen etwa am Wasser.Nachdem der Anfang in Kopenhagen gemacht war, stand das Telefon vor internationalen Anfragen weltweit nicht mehr still. Gehl ist Ehrenmitglied von Architekturinstituten in Dänemark, England, Schottland, Irland, USA und Kanada sowie Ehrendoktor der Unis Edinburgh, Varna, Halifax und Toronto.
Seine Devise lautet: „Stellen Sie sicher, dass Sie die Menschen dazu einladen, zu laufen und Fahrrad zu fahren soweit das irgendwie möglich ist!“ Das sei auch gesundheitlich das beste Mittel gegen das „Sitz-Syndrom“ und eröffne völlig neue Möglichkeiten für Räume in der Stadt.
Für Planer gelte: „You get what you invite for“ („Sie bekommen, wozu Sie einladen“). Dazu gehörten zum Beispiel kurze Wege für Radfahrer oder sichere Kreuzungen, Öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV) und Car-Sharing.
„Meine Enkelin konnte im Alter von zwölf in Kopenhagen mit dem Rad überall sicher fahren“, berichtete Gehl. Es gehe nicht darum gegen Autos zu sein, sondern für die Menschen, das sei die andere Seite der Medaille.
In der von Monika Bunk anschließend moderierten Fragerunde des Publikums spitzte es der 85-jährige Stadtplaner in einer Antwort humorvoll zu: „Wir betreiben viel Recherche in jedem anderen Bereich, beschäftigen uns mit Walen oder mit dem Liebesleben von Elefanten, aber nicht mit unserem eigenen Leben.“ Publikumsbeiträge richteten den Fokus unter anderem auf das bergige Gelände Marburgs, auf Menschen im ländlichen Umfeld sowie auf die Frage nach möglichen Konflikten.
In Sydney sei das Stadtoberhaupt nach der Umgestaltung viermal wiedergewählt worden. „Es geht darum, dass sich die Menschen in der Planung selbst wiedererkennen“, sagte Gehl.
Von Marburg hatte sich der Gast aus Dänemark bei einem Stadtrundgang und anschließender Fahrt im E-Bus Emil – begleitet von Vertreter*innen der Stadt – zuvor einen ersten Eindruck verschafft. Die Tour führte über Markt, Lutherischen Kirchhof, Oberstadtparkhaus, Alten Botanischen Garten, neue Unibibliothek, Waldtal, Spiegelslust, Universitätsklinik, Uni auf den Lahnbergen und Bauerbach bis zum Richtsberg.
Die an Plätzen orientierte Altstadt habe ihn sehr beeindruckt. „Sie können sehr glücklich sein, dass diese nicht wie in anderen Städten zerstört wurde“, zeigte sich der Gast begeistert.
Zugleich sei der Marburg-Besuch wie eine Zeitreise durch die Geschichte der Stadtplanung gewesen etwa mit den Lahnbergen und dem Richtsberg, die für den Modernismus stünden oder mit der „Panoramastraße“ (Gehl: „ohne jedes Panorama“) und der Stadtautobahn, die sich an Autos orientierten. „Das würde man heute nicht mehr so machen“, sagte Gehl. Man sei an einem „Breaking Point“.
Seine Ideen hatte er am Vormittag schon mit rund 80 Studierenden und Vertreter*innen von Universitäten und Fachhochschulen wissenschaftlich diskutiert. Am Tag nach der Diskussionsveranstaltung im KFZ hatte das Stadtjubiläum „Marburg800“ dann Kommunalpolitiker*innen, Magistrat und Menschen aus stadtplanerischen Initiativen der Stadtgesellschaft zum persönlichen Austausch mit Gehl, Oberbürgermeister Spies, Stadtplanerin Manuela Klug sowie GeWoBau-Geschäftsführer Jürgen Rausch eingeladen. Zur Frage „Was er durch die vielen anregenden Ideen aus internationalen Städten für Marburg gelernt habe?“, antwortete Marburgs Rathauschef: Für ihn sei es klares Ziel die von Jan Gehl so anschaulich erklärten Prinzipien in der Marburger Stadtplanung umzusetzen.
Als Beispiel dafür nannte er den Beteiligungsprozess „Move35“ mit Strategien für die Verkehrsentwicklung, um Marburg fußgängerfreundlicher und fahrradfreundlicher zu machen, aber auch um den Autoverkehr aus dem Umland in guter Weise in die Stadt zu kanalisieren. Weiter werde er überlegen, wie das Konzept der „Stadtplanung nach menschlichem Maßstab“ in die bauliche Entwicklung der Stadt einbezogen werden kann. Das gelte sowohl für Orte, an denen neue Dinge gebaut werden (wie die Planung am Hasenkopf mit reduziertem Autoverkehr), als auch für neue Ideen in bereits bestehender Bebauung.
„Wir benötigen in Marburg zwar andere Lösungen als in Kopenhagen allein aufgrund der Topographie, aber lebendig, nachhaltig, gesund und gut für die alten Menschen ist das, was wir auf jeden Fall haben wollen“, erklärte Spies. „Der menschliche Maßstab passt ausgezeichnet zum Geist der Stadt.“
Zum Abschied fügte Gehl hinzu: „Lasst die Mentalität von vor 50 Jahren hinter euch. Ich wünsche euch das Beste für diese ungewöhnlich schöne Stadt.“

* pm: Stadt Marburg

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