Die Sicht der Geisteswissenschaften auf das „Fremde“ stand im Mittelpunkt der ersten Marburger Wissenschaftsgespräche. Prominente Rednerin war dabei Prof. Dr. Bénédicte Savoy.
Mit welcher Motivation befassen wir uns mit Sachverhalten, die nicht unserer eigenen Kultur angehören und uns deshalb „fremd“ erscheinen? Wie bestimmen wir demgegenüber das „Eigene“? Was bedeutet das für wissenschaftliches Arbeiten?
Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt der ersten Marburger Wissenschaftsgespräche am Montag (18. Januar) und Dienstag (19. Januar) an der Philipps-Universität. Die politische und wissenschaftliche Sprengkraft dieser Frage wurde in Savoys öffentlichem Vortrag über „Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage“ deutlich.
Die prominente Kunsthistorikerin von der Technischen Universität (TU) Berlin und dem Collège de France in Paris war – pandemiebedingt per Videokonferenz – zu Gast bei den Marburger Wissenschaftsgesprächen. In ihrem Abendvortrag ging sie auf die Restitutionsdebatte ein, die in den 70er Jahren nach einem Symposium zum Thema „Museen und die Dritte Welt“ entflammt ist.
In vielen europäischen Ländern entwickelten Museen Strategien, um die Forderungen afrikanischer Länder abzuwehren, ihr Kulturgut wiederzuerlangen und im eigenen Land zu präsentieren. Der Vortrag stützt sich auf alte Korrespondenzen, Handreichungen, Sitzungsprotokolle und Vermerke, die in den Dienstzimmern der damaligen Museumsverantwortlichen in Berlin, Stuttgart, München, Köln oder anderswo entstanden sind.
„Die Anwesenheit von Kulturgütern in einem Museum bedeutet gleichzeitig die Abwesenheit dieser Güter an ihrem ursprünglichen Ort“, erklärte Savoy. „Das kann man bei einem Museumsbesuch abstrakt erfassen; aber wenn man die Orte bereist, an denen die Kulturgüter abwesend sind, ist das eine ganz andere Erfahrung. Das ist nicht nur ein Thema für Akademikerinnen und Akademiker, sondern eines, das auch längst im Kino angekommen ist.“
Savoy ergänztet: „Und diese mediale Aufarbeitung ist nicht neu. Sie hat schon in den 1970er Jahren begonnen. Die Frage nach Restitution wurde danach allerdings sehr effektiv vergessen. Unsere Aufgabe heute ist es, dafür zu sorgen, dass dies nicht wieder geschieht.“
Das neue Format der Marburger Wissenschaftsgespräche der Philipps-Universität will ganz bewusst die gesellschaftsbildende Kraft der Wissenschaft aufgreifen. Die Gesamtveranstaltung am 18. und 19. Januar stand unter dem Titel „Über das Fremde und das Eigene: Vom schwierigen Umgang der Geisteswissenschaften mit Kulturgut“. Aufhänger war die politisch höchst aktuelle Frage der Restitution von unrechtmäßig oder unter schwierigen Bedingungen erworbenen und in Museen verbrachten Kulturobjekten. In einem interdisziplinären Symposium und einem ebensolchen Kolloquium diskutierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus zwölf Fachdisziplinen an zwei Tagen darüber, was Kategorisierungen wie „eigen“ und „fremd“ für Museen und Sammlungen bedeuten, und welche Implikationen sie für andere wissenschaftliche Fragestellungen haben.
„Die Marburger Wissenschaftsgespräche führen die Haltung der Philipps-Universität konsequent fort, sich zu aktuellen Fragen aus wissenschaftlicher Perspektive zu positionieren und den Diskurs zwischen Spezialistinnen und Spezialisten und der Öffentlichkeit zu fördern“, erklärte Universitätspräsidentin Prof. Dr. Katharina Krause. „Denn Forschung und Erkenntnisgewinn finden immer in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext statt. Augenfällig ist dies derzeit auch beim Umgang mit der Corona-Pandemie. Wissenschaft hat das Potenzial, neue Perspektiven auch über den disziplinären Horizont hinaus zu eröffnen. Dazu wollen wir mit den Wissenschaftsgesprächen beitragen.“
Die Philipps-Universität lädt zu den Wissenschaftsgesprächen prominente Gäste ein, die Fragen aufwerfen, die so noch nicht gestellt wurden. Diese Gäste bringt sie mit Forscherinnen und Forschern der Universität sowie mit der interessierten Öffentlichkeit in den interdisziplinären Dialog.
Über den ersten Gast sagte Prof. Dr. Hubert Locher als wissenschaftlicher Leiter der ersten Marburger Wissenschaftsgespräche: „Professorin Bénédicte Savoy ist für das Fach Kunstgeschichte ebenso ein Glücksfall wie sie für diese ersten Marburger Wissenschaftsgespräche eine Idealbesetzung ist. Sie hat es durch ihren engagierten Einsatz geschafft, die Frage der sogenannten Beutekunst – des fragwürdigen Kunsterwerbs unter kolonialen Bedingungen –
nicht nur für die Gemeinde der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker aufzuarbeiten, sondern weitere Kreise zu erreichen. So wird deutlich, dass die Fragestellungen einer kritischen Kunstgeschichte über die Disziplin hinaus von großer gesellschaftlicher Relevanz sind.“
Savoy ist 2018 durch einen aufsehenerregenden Bericht über die Frage der Restitution von afrikanischem Kulturgut in öffentlichem Besitz aus den Zeiten kolonialer Herrschaft hervorgetreten, den sie im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron gemeinsam mit dem senegalesischen Sozialwissenschaftler Prof. Felwin Sarr verfasst hat. Savoy und Sarr fordern in dem Bericht die Aufarbeitung der Geschichte der kolonialen Besitznahme und setzen sich für die Rückgabe der wichtigsten „translozierten“ Kulturobjekte ein.
Savoy wurde 2000 an der Universität Paris VIII mit einer Studie zum napoleonischen Kunstraub promoviert. Zunächst Juniorprofessorin an der Technischen Universität Berlin, wurde sie 2009 dort Professorin für Kunstgeschichte der Moderne. Seit 2017 ist sie zudem Professorin für die Kulturgeschichte des europäischen Kunsterbes am Collège de France in Paris.
Sie hat zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten. 2011 wurde sie mit dem Richard Hamann-Preis für Kunstgeschichte der Philipps-Universität ausgezeichnet. 2016 wurde ihr der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (dFG) zuerkannt.
In ihren Forschungen hat sie sich in bahnbrechenden Studien mit den Anfängen der modernen Museumskultur und besonders der Frage der Aneignung und Appropriation von Kulturgut – „Kunstraub“ und „Beutekunst“ – befasst.
* pm: Philipps-Universität Marburg