Vervielfacht: Grafische Kommunikation als Schrift indigener Gemeinschaften

Viele Informationen werden im Alltag über grafische Systeme vermittelt. Solche Kommunikationssysteme indigener Gemeinschaften erforschen Wissenschaftler aus Marburg und Warschau.
Eine solche Kommunikation erfolgt heutzutage beispielsweise durch Verkehrsschilder, mathematische Formeln oder Musiknoten. Mit ähnlichen visuellen Kodes vermittelten bereits frühe indigene Gemeinschaften in Mittel- und Südamerika wie die Maya, Azteken oder Mixteken Bedeutung.
Wie genau sie ihr Wissen kodierten und welche Rolle diese Kommunikationssysteme für die aktuelle Schriftforschung spielen, untersucht ein neues Projekt der Philipps-Universität und der Universität Warschau. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Vorhaben mit rund 800.000 Euro über drei Jahre im Rahmen der Förderlinie „Beethoven CLASSIC 3“.
„Ein populäres Verständnis von Schriftsystemen ist, dass Schrift Sprache darstellt“, erklärte Prof. Dr. Ernst Halbmayer vom Institut für Sozialanthropologie und Religionswissenschaft der Philipps-Universität. „Dieser tief verwurzelte Ansatz der Schriftforschung wird zunehmend durch die Erforschung breiter definierter Notationssysteme ersetzt.“
Halbmayer leitet das Projekt gemeinsam mit Prof. Dr. Katarzyana Mikulska von der Universität Warschau. „Diese Systeme zielen nicht auf eine Kodierung von Sprache ab, sondern erzeugen Bedeutung direkt über visuelle Kodes, die für den Empfänger unabhängig von der Sprache, die er spricht, verständlich sind“, erläuterte Halbmayer.
Der klassische Zugang zur Schriftforschung habe aber dazu geführt, dass viele grafische Kommunikationssysteme ausgeschlossen wurden. Insbesondere betrifft das die, die außerhalb Europas entwickelt wurden.
„Ziel dieses Projekts ist es, eine allgemeine Methodik für die Erforschung indigener grafischer Kommunikationssysteme von der Schrift der Maya und Azteken bis zu den Kommunikationssystemen der Anden zu entwickeln“, erklärte Halbmayer. „Wir wollen verstehen, wie und auf welche Weise indigene Gemeinschaften mittels graphischer Zeichen kommunizieren und Wissen kodieren.“
In fünf Teilprojekten werden verschiedene Beispiele grafischer Systeme auf Basis gemeinsamer methodischer Prinzipien analysiert, darunter Mixtekische Codices des prähispanischen Mexikos, ein graphisch-ikonisches System der Tiwanaku-Kultur in den Zentralanden, die Tio-tio Bilderschrift und graphischen Kommunikationssystemen der Yukpa und ihre Beziehung zu anderen grafischen Systemen in der isthmo-kolumbianischen Region, die Logik der graphisch-visuellen Kommunikation des „Mais-Lesens“, einer Weissagungstechnik in Mexiko, sowie formale und strukturelle Möglichkeiten der Bedeutungskodierung in der prähispanischen Felskunst aus dem Norden Venezuelas. Die Teilprojekte zum andinen Tiwanaku und den isthmo-kolumbinaischen Yukpa sind am Institut für Sozialanthropologie und Religionswissenschaft der Philipps-Universität verortet.
„Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beider Länder tragen mit diesem Projekt wesentlich zur Erforschung prähispanischer und zeitgenössischer Grafiksysteme grafischer Kommunikationssysteme verschiedener kultureller Regionen Amerikas bei“, erläuterte Halbmayer. „Unser Ziel ist dabei nicht nur das Verständnis der Kommunikationssysteme indigener Kulturen, sondern ebenso eine theoretische Neufassung der allgemeinen Theorie der Schrift sowie der traditionellen Unterteilung in mündliche und schriftliche Gesellschaften.“
Das 2014 gestartete Förderprogramm „Beethoven“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem National Science Centre Poland (NCN) zielt darauf ab, polnisch-deutsche Forschungsprojekte von herausragender wissenschaftlicher Qualität zu finanzieren und so die internationale akademische Zusammenarbeit zu stärken. Nach zwei erfolgreichen Förderrunden erweiterten die DFG und das NCN 2018 das Programm um die Förderlinie „Beethoven CLASSIC 3“ für Geistes-, Sozial-, Chemie-, Physik-, Mathematik-
und Materialwissenschaften sowie „Beethoven LIFE 1“ für die Forschung in Biowissenschaften.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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