Jürgen Helmut Keuchel ist der altgedienteste Schauspieler beim Hessischen Landestheater Marburg (HLTM). In seiner Traumrolle brilliert er nun als „Der Hauptmann von Köpenick“.
Unter der Regie von Nina Pichler feierte das gleichnamige Theaterstück von Carl Zuckmayer am Samstag (2. November) Premiere im „Großen TaSch“. Der Ausstatter Hans Winkler und die Regisseurin hatten den Stoff nicht modernisiert, sondern stellten mit Bühne und Kostümen eine Zeit zwischen 1900 und 1910 dar. Gerade dadurch gewann die Tragikomödie um Bürokratie, Macht und Militarismus erheblich an Aktualität und Brisanz.
Der Schuster Wilhelm Voigt wird aus dem Gefängnis entlassen. Als anständiges Mitglied der Gesellschaft möchte er in seinem erlernten Beruf arbbeiten. Doch ohne Aufenthaltserlaubnis bekommt er keine Stelle und ohne Stelle keine Aufenthaltserlaubnis.
Mit einem ehemaligen Mithäftling überfällt er eine Polizeistation. Während sein Kumpel scharf ist auf die Kasse, möchte Voigt nur einen Pass. Doch beide werden verhaftet; und Voigt wandert für weitere zehn Jahre in den Knast.
Hier drillt der Gefängnisdirektor die Häftlinge militärisch. Zum Jahrestag der Schlacht von Sedan lässt er sie den Krieg üben. Dabei tut sich Voigt als gehorsamer Schüler hervor.
Während diese Szene den Militarismus des preußischen Kaiserreichs karrikiert, hat Zuckmayer die Szenen nach Voigts Entlassung sehr sozialkritisch angelegt. Mit seinem Schwager Friedrich diskutiert Voigt über Recht und Gerechtigkeit sowie Unrecht und Gehorsam. Obwohl Friedrich selbst ungerecht behandelt wurde, hält er die Entscheidungen von Behörden grundsätzlich für richtig.
In Deutschland gebe es kein Unrecht, behauptet Voigts Schwager Friedrich. Der Staat verhalte sich immer gerecht. „Du musst Dich einfügen“, rät er dem Schuster.
„Erst kommt der Mensch und dann die menschenordnung“, entgegnet ihm Voigt. Er verlässt die Familie des Schwagers und geht nach Köpenick zum Rathaus. In der Uniform eines Hauptmanns befiehlt er dem Bürgermeister in militärischem Ton, ihm einen Pass auszuhändigen.
Diese „Köpenickiade“ hat 1906 tatsächlich stattgefunden. Die wahre Begebenheit hat Zuckmayer 1930 angesichts des heraufziehenden Faschismus und seines militaristischen Uniformkults sehr gekonnt karrikiert. Bereits 1933 wurde sein Theaterstück von den Nazis dann als „zersetzend“ verboten.
Berühmte Regisseure wie Helmut Käutner und Katharina Thalbach sowie Schauspieler wie Heinz Rühmann, Harald Juhnke und Otto Sander haben diese Geschichte fest im kulturellen Erbe Deutschlands verankert. Selbst der genialen Darstellung des Schusters Voigt in einem Fernsehfilm von 1960 durch den hervorragenden Rudolf Platte steht Keuchel in nichts nach. Pichlers Inszenierung besticht durch eine überzeugende Darstellung von obrigkeitshörigem Militarismus und sozialem Elend einerseits sowie dem Spott über die willfährigen Mitläufer, ohne sie jedoch ihrer menschlichen Züge zu berauben.
Gerade darum ist „Der Hauptmann von Köpenich“ im HLTM unbedingt sehenswert. Zu der hervorragenden Darstellung eines – auch heute leider immer noch aktuellen – Problems trugen alle Darstellenden ebenso bei wie die behutsame Rücksichtnahme auf die literarische Vorlage und das Zeitkolorit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gerade auch jüngeren Menschen sei ein Besuch dieser kurzweilig heiteren und zugleich eindringlich aufrüttelnden Lehrstunde über Militarismus, Macht und Mut unbedingt empfohlen.
* Franz-Josef Hanke