Eindringliche Erlebnisse: „JOHANN*A – Stell dir vor es ist Krieg und (k)eine*r geht hin“

Das Stück „JOHANN*A – Stell dir vor es ist Krieg und (k)eine*r geht hin“ feierte am Samstag (21. September) seine Premiere. Am Samstag (19. Oktober) wurde die Inszenierung des Hessischen Landestheaters Marburg (HLTM) im Erwin-Piscator-Haus (EPH) erneut gezeigt. 

Der Saal wird von einem irritierenden Dröhnen erfüllt, als die Zuschauer auf ihre Plätze sitzen. In einem gespenstischen Schwarz-Weiß-Szenario liegen die Schauspieler*innen auf einem Steg, der von der Bühne aus zentrale in den Zuschauerraum führt. Alle sind in weiße Gewänder gehüllt, die in scharfem Kontrast zur Dunkelheit des Raumes stehen. Bedrohliche Musik schwillt an, während die acht Schauspielenden sich mühsam vorwärts robben. Auf der Bühne türmen sich acht Stühle. Sie sind chaotisch und achtlos übereinandergeworfen. Es ist ein Bild der Verwahrlosung und Zerstörung, das an ein Schlachtfeld erinnert. Die Atmosphäre ist düster und beklemmend. Inmitten dieser Kulisse steht ein junges Mädchen und singt mit ergreifender Stimme: „Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben? Was ist geschehen? Wann wird man je verstehen?“ Ihre melancholischen Fragen hallen durch den Raum. Sie dringen in die Herzen der Zuschauer, die in die Tiefe der tragischen Darstellung eintauchen.

„JOHANN*A – Stell dir vor, es ist Krieg und (k)eine*r geht hin“ setzt sich zeitgemäß mit dem Mythos der Jeanne d’Arc auseinander. Das Stück betrachtet den Krieg sowohl als äußeren Konflikt als auch als inneren Kampf. Basierend auf Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ nimmt es das Publikum mit auf eine introspektive Reise ins menschliche Seelenleben. Dabei werden grundlegende Fragen zu Krieg, Kampf und Tod aufgeworfen.

Johanna von Orleans – auch bekannt als die heilige Jungfrau, Jeanne d’Arc oder la Pucelle – ist eine faszinierende Figur der Geschichte. Ihr Mythos schwankt zwischen den Extremen: Kriegerin und Heilige, Nationalheldin und Widerstandskämpferin. Jeanne wurde als Tochter eines Schäfers während des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England geboren. Mit etwa 13 Jahren hörte sie göttliche Stimmen. Diese Stimmen forderten sie auf, Orleans von den Engländern zu befreien und den französischen Thronfolger nach Reims zu bringen. Mit einem Heer an ihrer Seite errang sie überraschende Siege für Frankreich. Schließlich wurde sie gefangen genommen, als Hexe verurteilt und 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihr Urteil wurde 1456 aufgehoben, und 1920 wurde sie heiliggesprochen. Friedrich Schiller verwendete diese historische Figur als Grundlage für sein Drama „Die Jungfrau von Orleans“ und erweiterte ihren Mythos literarisch. „Was bleibt, ist die tote Heldin und die tausend Bilder und Erzählungen.“

In „JOHANN*A“ sucht Autorin Julienne de Muirier nach einer Interpretation von Schillers Drama, die ins Heute passt. Sie beschreibt Johanna als eine Projektionsfläche für vielfältige Narrative: als Heldin, Rachegöttin, Sündenbock, Widerständige oder als Symbol für nationale Identität. Diese unterschiedlichen Darstellungen werfen die Frage auf, was eigentlich hinter diesen Projektionen verborgen liegt. Wie wirken diese widersprüchlichen Kräfte aufeinander, wenn Johanna sich selbst fragt, wer sie wirklich ist? Hier beginnt die Erzählung von Johann*a. 

Anstatt die Geschichte einer Schlacht zu erzählen, geht die Inszenierung einen entscheidenden Schritt weiter. Sie untersucht, was Krieg für jede Einzelne und jeden Einzelnen bedeutet und welche Emotionen er in uns hervorruft. Der Fokus verschiebt sich vom kollektiven „Wir“ hin zur persönlichen Auseinandersetzung mit dem „Ich“. Die introspektive Betrachtung bringt die inneren Kämpfe und Zerrissenheit ans Licht. Dadurch wird sichtbar, inwiefern Krieg nicht nur äußere Konflikte schafft, sondern auch unsere tiefsten Zweifel und Ängste verstärkt. 

In diesem Spannungsfeld zwischen äußerer Aggression und innerem Tumult beleuchtet das Stück grundlegende Fragen: Warum entscheidet sich ein Mensch, in den Krieg zu ziehen? „Beschützen wir die Welt, oder muss die Welt vor uns geschützt werden“? Warum wollen wir Krieg, warum kämpfen wir? Und wie viel Johann*a steckt in mir? Was würden wir tun, wären wir Johann*a? Steht letztendlich „nicht auf jeder Seite eine Johanna oder ein Johann, die sich ängstlich ins Gesicht blicken, suchend nach Liebe und Verbundenheit?“ 

Regisseurin Miriam Ibrahim und ihr Team führen das Publikum auf eine emotionale Reise. Das EPH verwandelte sich in einen Raum voller sinnlicher Erlebnisse. Denn die Theateraufführung bietet mehr als nur eine inhaltliche Auseinandersetzung; sie schafft unmittelbare Erfahrungen. Die beeindruckenden schauspielerischen Leistungen des Ensembles tragen maßgeblich zur spürbaren Intensität des Stücks bei. Das Bühnenbild mit großen Projektionsflächen und einem Steg, der durch den Zuschauerraum verläuft, ermöglicht es, dass das Spiel vor, neben und hinter dem Publikum stattfindet. So werden die Zuschauer aktiv in das Geschehen einbezogen. Es rückt in unmittelbare Nähe. Die Expressionen und Blicke der Akteur*innen wirken dadurch noch eindringlicher. 

Die Inszenierung regt zum Nachdenken an und bleibt nachhaltig in Erinnerung. Eine besonders ergreifende Szene zeigt eine mechanische Beschreibung der Funktionsweise von Waffen – von Drohnen und Raketen bis hin zu Panzern und Maschinengewehren. Die nüchterne Aufzählung ihrer Anwendung sowie der Zerstörung, die sie verursachen, verdeutlicht die Absurdität ihrer bloßen Existenz. Warum haben wir diese tödlichen Maschinen nur geschaffen? Was tun wir hier eigentlich?

Denn das Stück konfrontiert uns mit der brutalen Realität von Krieg und Gewalt. Es bringt den oft fernen Krieg schmerzhaft und erschreckend nah. Diese düstere, aber notwendige Auseinandersetzung ist ein eindringlicher Reality Check. Die Aufführung zeigt, dass wir die Augen vor der Grauenhaftigkeit dieser Thematik nicht verschließen dürfen. Eindrucksvolle Bilder und aufwühlende Fragen lassen keinen Zuschauer unberührt. Die Absurdität und Tragik von Krieg und Kampf werden auf eine Weise erlebbar, die uns dazu zwingt, über unser eigenes Verhältnis zu diesem Thema nachzudenken.

Stell dir also vor, es ist Krieg, aber keine*r geht hin. Was wäre, wenn einfach niemand mitmachen, sondern nur kopfschüttelnd abwinken würde? Krieg? Nein, danke. Da habe ich keine Lust drauf. 

* Leonie Schulz

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