„Der marigoldene Nachmittag gleitet dahin, doch bald wird’s still und alles lauscht“, wenn auf der Schlossparkbühne das Sommertheater beginnt. Mit „Alice im Wunderland“ bringt das HLTM eine Inszenierung des Klassikers auf die Bühne, die der Verrücktheit des Originals gerecht wird.
Ein komisches Ding ist sie, diese Alice. Ein junges englisches Mädchen mit besten Manieren und aus gutem Hause. Oder waren es vielleicht fünf Mädchen? Oder hieß sie doch ganz anders? Wird sie sich im Laufe ihres Abenteuers verändern oder bleibt sie „nur Alice“?
Gleich fünf Schauspielerinnen und Schauspieler verkörpern die Rolle der Alice zunächst. Ihr Sprechchor gesellt sich zu der „Erzählerstimme“ der drei Königinnen. Doch schon nachdem Alice durch ein Loch in ihrem Garten ins sonderbare Wunderland fällt, teilt sich ihre Persönlichkeit.
Oft wird Alice von den seltsamen Bewohnern des Wunderlands beeinflusst und möchte sich selbst verändern. Genau dann wechselt sie den Darsteller.
Jeder der Darstellenden bringt eigene Nuancen zur Geltung. So ist das Mädchen mal naiv und gutgläubig, mal determiniert und durchsetzungsstark, mal verwirrt und verzweifelt. Adele Emil Behrenbeck und Ben Knop sind eine mutige, laute Alice mit großer Mimik und viel Bewegung. Antonia Leichtle, Charlotte Ronas und Georg Santner hingegen verkörpern oft eher die jugendlichen und manchmal unsicheren Seiten der Figur.
Von Mona Sabaschus adaptiert und inszeniert ist die Bühnenfassung des Klassikers für das Hessische Landestheater Marburg (HLTM). Als Vorlage dienen die Romane „Alice im Wunderland“ (1865) und „Alice hinter den Spiegeln“ (1871) von dem englischen Autor Lewis Carroll.
Für Sabaschus erinnert die ständige Selbst-Optimierung der Bewohner des Wunderlands an jene Eindrücke, mit denen man in den Sozialen Medien zugedröhnt wird. Darauf deuten Slogans und Sprüche hin, die während dem Stück immer wieder fallen: „You go girl! Try harder!“ oder „Just be yourself, no matter what they say” sowie „Inhale, exhale, low-carbs, no-carbs, be the best version of yourself.“
Viele dieser entgegengedonnerten Aufforderungen kommen von den drei Königinnen. Die Herzkönigin (Aliona Marchenko), die Schwarze Königin (Eike Mathis Hackmann) und die Weiße Königin (Fanny Holzer) fordern Alice dazu auf, durch den Wald zu gehen, in dem Nichts einen Namen hat. So kann auch sie Königin werden. Nur darf sie dabei nicht vergessen, wer sie ist.
Daraufhin begibt sich Alice auf eine Reise, bei der sie allerhand wunderliche Waldbewohner antrifft. Dazu gehören all die Figuren, die einem aus den Geschichten bereits so vertraut sind – der verrückte Hutmacher, das Kaninchen, der Goggelmoggel (Humpty Dumpty) oder der weiße Ritter. Besonders gut von Adele Emil Behrenbeck und Antonia Leichtle gespielt sind Zwiddeldum und Zwiddeldei, deren abgehackte Bewegungen auch aus einem Film hätten stammen können.
Auch die drei Königinnen sind fabelhaft dargestellt. Wie die drei Hexen in „Macbeth“ bewegen sie sich als allgegenwärtige Präsenz über die Bühne doch mischen sich wenig ein und kommentieren eher. Trotzdem haben alle Figuren Angst vor ihnen, wobei der Zuschauer eher Spaß an der unterschiedlichen Auslegung der Charaktere hat.
„Du denkst wohl, wir wären nicht blöd!“ sagt der Hutmacher in der bekannten Szene des ewigen Fünf-Uhr-Tees, die genauso durcheinander und seltsam ist wie sie sein sollte. Die Verrücktheit des Hutmachers, des Kaninchens und der Haselmaus kontrastieren perfekt mit Alices englischer Höflichkeit.
Teilweise ist diese sowie andere Szenen etwas zu lang und es passiert sehr viel auf einmal. Wenn man die Erzählungen von Lewis Carroll nicht kennt, ist es etwas schwer, der Handlung zu folgen.
Ein besonderes Highlight ist allerdings die vierköpfige Band mit der Addition von der „Grinsekatze“ Rose Letso Steinhoff als Sängerin. Vor allem die vorletzte Musiknummer im Duett mit Ben Knop ist mitreißend und wundervoll gesungen. Musikalisch hat die Inszenierung generell viel zu bieten und auch der sprachliche Rhythmus sowie viele Wortspiele liefern zwei Stunden lang ein großes Maß an Unterhaltung.
Auch das besondere Ambiente des Open-Air-Theaters fügt der Inszenierung etwas Magisches hinzu. Die klanglich mit Alices Begehen einer pfeifenden Treppe verschmelzenden Glockenschläge vom Kirchturm, der langsam dunkler werdende Himmel hinter den drei großen Bögen der Schlossparkbühne, sowie eine warme Abendbrise, die einem den Nebel aus der Nebelmaschine ins Gesicht pustet, verschaffen ein ganz besonderes Theater-Ambiente.
Ganz zu Anfang des Stücks ist Alice noch vom Buch ihrer Schwester gelangweilt, denn „was für einen Zweck haben schließlich Bücher, in denen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkommen?“ Auch diese Frage weiß das Stück zu beantworten. Die aufwendigen Kostüme und Requisiten von Janin Lang ergeben wirklich schöne Bilder auf der Bühne. Komplimentiert werden sie durch seltsame Unterhaltungen, deren (Un)Sinn man erst sehr viel später versteht.
Mit überraschend viel Gesellschaftskommentar wird die Transformation von Alice dem Publikum nahegebracht. Zwei Stunden lang lernt man zusammen mit den Bewohnern des Wunderlands vervielfraßen und bruchlächeln, Ungeburtstage feiern und dass man sich nicht für Andere wie ein Teleskop zusammenzuschieben braucht.
Voller Magie und Phantasie ist diese Inszenierung von „Alice im Wunderland“, die man noch bis Juli auf der Schlossparkbühne bewundern kann. Ob man am nächsten Morgen nach dem Aufstehen noch dieselbe ist?
*Laura Schiller
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.