Ein zeitgemäßes europäisches Abstammungsrecht fordert die „Marburg-Group“. Sie empfiehlt Änderungen an Brüsseler Gesetzentwurf dazu.
Wer in einem europäischen Land Vater oder Mutter eines Kindes ist, ist dadurch noch lange nicht automatisch in anderen EU-Staaten als Elternteil rechtlich anerkannt. Um die grenzüberschreitende Anerkennung von Eltern-Kind-Verhältnissen zu regeln und dabei moderne Familienformen besser zu berücksichtigen, hat die EU-Kommission Ende 2022 eine entsprechende Verordnung vorgelegt. Die Juristinnen und Juristen der sogenannten „Marburg Group“ haben diesen Entwurf eingehend untersucht und Verbesserungsvorschläge unterbreitet, die im Internet unter www.marburg-group.de veröffentlicht sind.
Die „Marburg Group“ ist eine Arbeitsgruppe, der fünf Zivilrechts-Expert*innen von verschiedenen deutschen Universitäten angehören. Unter ihnen sind Prof. Dr. Christine Budzikiewicz und Prof. Dr. Tobias Helms vom Institut für Familienrecht der Philipps-Universität. Sie möchten erreichen, dass die Regelungen zum Abstammungsrecht so überzeugend ausgestaltet werden, dass das ambitionierte Vorhaben innerhalb der EU tatsächlich verabschiedet wird und den Familien mehr rechtliche Sicherheit und Klarheit verschafft.
Das Abstammungsrecht klärt, wer die rechtlichen Eltern eines Kindes sind. Von dieser fundamentalen Weichenstellung hängen zahlreiche Fragen ab, die nicht selten vor Gericht ausgefochten werden wie Unterhaltspflichten, Erbrecht, elterliche Sorge, Vaterschaftsanerkennung, Vormundschaft oder die Staatsangehörigkeit.
„Es ist beachtlich, welche Dynamik mit einem Mal in die Diskussion gekommen ist, seitdem sich die EU-Kommission dieses Themas angenommen hat und im Grunde recht entschlossen und mutig einen ersten Entwurf vorgelegt hat, während die internationale Entwicklung in den Jahrzehnten davor auf der Stelle getreten ist“, freute sich Budzikiewicz. „Wir konnten bereits feststellen, dass sowohl von Seiten der EU-Kommission als auch in den Justizministerien einzelner Mitgliedstaaten Interesse an unserer Stellungnahme besteht“, ergänzte Helms. „Die Materie ist so speziell und komplex, dass die Gesetzgebungsorgane in solchen Fällen gerne auf externe Expertise zurückgreifen.“
Da das Abstammungsrecht in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union derzeit höchst unterschiedlich ausgestaltet ist, kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Kind zwar aus Sicht des spanischen Rechts zwei Mütter hat, in Polen aber nur eine dieser Personen als Mutter gilt, während die zweite Elternstelle nur ein Mann als Vater einnehmen könnte. Ebenso sind Konstellationen denkbar, in denen ein Mann zwar nach französischem, nicht aber nach deutschem Recht Vater eines Kindes ist. Solche Unterschiede können erhebliche Probleme bereiten, wenn eine Familie ihren Lebensmittelpunkt von einem Staat in einen anderen verlegt.
Wenn die Abstammung eines Kindes – etwa bei Unterhaltsforderungen oder erbrechtlichen Auseinandersetzungen – zu klären ist, entscheidet in solchen Fällen bislang jeder Staat für sich, welches Recht – deutsches oder französisches, spanisches oder polnisches – er anwendet. Die Europäische Abstammungsrechtsverordnung, die jetzt im Entwurf vorliegt, soll diesen Zustand beenden.
„Grundsätzlich verdient der Verordnungsentwurf Unterstützung“, urteilte die „Marburg Group“. Der Entwurf sieht zum Beispiel vor, dass eine gleichgeschlechtliche Elternschaft wie etwa eie Co-Mutterschaft, die in einem Mitgliedstaat begründet wird, künftig in allen anderen Mitgliedstaaten verpflichtend anerkannt wird. „Doch leider wird der Entwurf der Vielfalt der Familienkonstellationen, die Fragen des internationalen Abstammungsrechts aufwerfen, noch nicht gerecht“, kritisieren die Rechtswissenschaftler*innen.
Wenn ein Kind geboren wird, soll das Recht des Staates Anwendung finden, in dem die Geburtsmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die gleiche Grundregel kann aber sinnvollerweise nicht mehr viele Jahre später gelten, wenn Mutter und Kind ihren Aufenthalt in einen anderen Staat verlagert haben oder ein Kind – etwa, nachdem es volljährig geworden ist – alleine ins Ausland gezogen ist.
Die „Marburg Group“ schlägt in ihrer Stellungnahme daher vor, die kollisionsrechtliche Grundregel des Entwurfs – und damit die Maßgeblichkeit des Rechts des Staates, in dem die Geburtsmutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat – auf die Eltern-Kind-Zuordnung im Zeitpunkt der Geburt zu beschränken. Sollten nach der Geburt weitere abstammungsrechtlich relevante Dinge passieren wie eine spätere Vaterschaftsanerkennung oder eine Anfechtung der Vaterschaft etwa durch das volljährig gewordene Kind, dann sollte die Rechtsordnung des Staates anwendbar sein, in dem das Kind zu diesem Zeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Zur Zeit diskutieren die Mitgliedstaaten über den Verordnungsentwurf und eruieren zusammen mit der Europäischen Kommission, inwieweit Änderungs- und Verbesserungspotential besteht. Die Marburg Group hat ihre englischsprachige Stellungnahme am Mittwoch (10. Mai) unter www.marburg-group.de veröffentlicht. Neben ihren beiden Marburger Mitgliedern besteht die Arbeitsgruppe aus Konrad Duden aus Leipzig, Anatol Dutta aus München und Claudia Mayer aus Regensburg.
* pm: Philipps-Universität Marburg