Unglaubliches Ungeziefer: „Die Verwandlung“ von Franz Kafka überzeugte im TaSch

„Die Verwandlung“ ist vielleicht die bekannteste Erzählung von Franz Kafka. Brit Bartkowiak brachte sie am Samstag (24. November) im „Großen Tasch“ gekonnt auf die Bühne.
Die 1912 entstandene Geschichte über den „Reisenden“ Gregor Samsa und seine plötzliche Verwandlung bewies in der Inszenierung für das Hessische Landestheater Marburg (HLTM) ihre zeitlose Aktualität und geradezu prophetische Genialität. Eines Morgens erwacht Samsa und stellt eine völlig unerwartete Veränderung fest. Nichts ist mehr, wie es vorher war.
„Was ist geschehen?“, fragen die sechs Darsteller nacheinander und im Chor. „Ist das alles nur ein Traum?“ Diese Fragen wiederholen sie zu Beginn und im Laufe der Aufführung mehrmals.
Ansonsten tragen sie im Wechsel Kafkas Text über Samsas böses Erwachen und die weiteren Vorgänge im Haus seiner Familie vor. Die Reaktion des Vaters, der Mutter und der Schwester werden von verschiedenen Schauspielern beschrieben.
Derweil sieht das Publikum auf der Bühne nur einen hellen Vorhang, durch den möglicherweise etwas hindurchscheint. Die Möbel im Zimmer oder Gregor hingegen zeigt die Inszenierung nicht.
Gerade dadurch regt sie die Phantasie der Zuschauenden an. Durch den wechselnden Vortrag des Texts eröffnet sie viel Raum für eigene Assoziationen.
Der Prokurist kommt, um bei Samsa nach dem Rechten zu sehen. Sein Mitarbeiter ist am Morgen nicht frühzeitig aufgestanden und zum Bahnhof gegangen, um dort die geplante Geschäftsreise anzutreten.
Arbeitsdruck und die Leistungsanforderung bedrängen Samsa. Er möchte ja aufstehen und arbeiten, aber er kann nicht.
Er ist „ungeziefer“. Auf seinem Bauch befinden sich weiße Punkte und er krabbelt auf kleinen Beinchen auch die Wand hinauf bis zur Decke.
Vater und Mutter scheuen die Begegnung mit ihm. Auch seine Schwester redet nicht mehr mit ihm, obwohl er jedes Wort versteht. Doch die Familie versteht seine Sprache nicht mehr.
Kafkas scharfe Kritik an Leistungswahn und einem utilitarischen Menschenbild haben die Darsteller in dieser Inszenierung hervorragend herübergebracht. Saskia Boden-Dilling, Mechthild Grabner, Zenzi Huber, Jorien Gradenwitz, Artur Molin und Stefan Piskorz überzeugten durch darstellerisches Können und vor allem ihre ausgefeilte Deklamation. Die Vielschichtigkeit des genialen Texts machten sie dadurch gut hörbar.
Letztlich zeigte die Inszenierung aber weniger die Handlung der Geschichte als vielmehr die dahinterliegenden Haltungen der Beteiligten. Vor allem regte diese Darstellung das Nachdenken und die Phantasie der Zuschauenden an.
Für ihre beeindruckenden Leistungen erhielten alle Beteiligten zum Schluss zu Recht anhaltenden Applaus. Auf großartige Weise ist es ihnen gelungen, den zunächst verstörend fremdartigen Text von Kafka dem Marburger Publikum nahezubringen, dessen Aussagen nahegehen und zugleich prophetisch wie brandaktuell sind.

* Franz-Josef Hanke

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