Gegen moralische Insolvenz: Gut 800 Menschen demonstrierten für Seenotrettung

„Menschenrechte erhalten: Für Asyl, gegen politische Verrohung“ lautete das Motto einer Kundgebung am Montag (16. Juli) auf dem Marktplatz. Die Zahl der Teilnehmenden übertraf dabei alle Erwartungen der Organisatoren erheblich.
Hatten sich die Demonstrierenden anfangs am oberen Marktplatz neben dem Marktbrunnen aufgestellt, so zogen sie schnell hinunter zum Rathaus. Als der Friedensforscher PD Dr. Johannes M. Becker kurz nach 17 Uhr die Kundgebung der Gruppe „200 nach Marburg“ und des „Kerner-Netzwerks“ eröffnete, war der gesamte Platz voll von Menschen.
Mit einem Zitat des früheren CDU-Bundesministers Norbert Blüm begann Becker seine Rede. Wenn die Europäische Union (EU) mit ihren gut 500 Millionen nicht einmal fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen könne, dann solle sie „den Laden dichtmachen wegen moralischer Insolvenz“.
Anschließend nannte Becker Zahlen aus dem jüngsten Bericht der UN-Organisation für Migration. Demnach sind im ersten Halbjahr 2018 in ganz Europa nur gut 65.000 Geflüchtete angekommen. 2017 waren es im ganzen Jahr weniger als 110.000, berichtete Becker.
Demgegenüber habe der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ausgerechnet, dass Deutschland jedes Jahr 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte benötige, um Renten und Pflege dauerhaft zu sichern. Becker erinnerte an hugenottische Flüchtlinge im 18. Jahrhundert sowie die Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch die Millionen von „Gastarbeitern“, die Deutschland bereichert und ihm Wohlstand beschert haben.
Ein Vertreter der Gruppe „Dissident“ machte anschließend in seiner Rede den „Kapitalismus“ für die moralische Misere verantwortlich. Waffenhandel und Agrarexporte der EU in afrikanische Länder seien Fluchtursachen, die im derzeit herrschenden Wirtschaftssystem aber wohl kaum ernsthaft bekämpft werden dürften. Stattdessen lenke die Debatte über Flüchtlinge von wichtigen sozialen Problemen ab, erklärte er.
Zwei Vertreter der neu gegründeten Gruppe „Seebrücke Marburg“ berichteten von der Situation der Seenotretter auf Malta. Dazu verlasen sie einen Brief der Retter, die die Festsetzung von drei Schiffen und eines Flugzeugs sowie dreier „hoch motivierter und erfahrener Crews“ anprangertn. Der Brief endete mit einem großen Dank an alle, die in Deutschland für die Seenotrettung auf die Straße gehen.
Anya Allouch von „Medinetz“ Marburg berichtete von ihrer Arbeit. Die Gruppe organisiert medizinische Hilfe für Menschen, die über keine Krankenversicherung verfügen. Dabei arbeitet sie mit Ärzten zusammen, die auf ihr Honorar verzichten.
Zu den Menschen ohne Krankenversicherung gehörten Obdachlose ebenso wie Geflüchtete, berichtete sie. Eigentlich sei es Aufgabe des Staates, das Recht aller Menschen auf Leben und Körperliche Unversehrtheit sicherzustellen, fordert sie; da das nicht geschehe, müsste sich „Medinetz“ halt dieser lebenswichtigen Aufgabe annehmen.
Den häufig gehörten Slogan „Seenotrettung ist kein Verbrechen“ findet Julia Flechtner von der DGB-Jugend zu defensiv. Daraufhin erscholl es aus der Menge: „Seenotrettung ist Pflicht. Ein Verbrechen ist, wenn nicht!“
Die Verbreitung menschenfeindlicher Äußerungen gerade gegenüber Geflüchteten führte Flechtner auf das sogenannte „Framing“ rechtspopulistischer Kreise zurück, die Begriffe wie „Asyltourismus“ bis in die mitte der Gesellschaft hinein verankerten. Eine wichtige Rolle spielten dabei radikale Burschenschaften aus Marburg. Als wichtige Aufgabe bezeichnete sie deshalb die Erforschung rechtsradikaler Strukturen im Marburger Verbindungswesen und deren Beziehungen zu Neonazis und zur AfD.
Als „Bürger Marburgs, Hessens, Europas und als Weltbürger“ stellte sich Prof. Dr. Ulrich Wagner zu Beginn seiner Rede vor. Zum ersten und einzigen Mal sei er auf Deutschland „so etwas wie stolz“ gewesen, als Ende 2015 eine gigantische Welle der Hilfsbereitschaft das Land erfasste, um Geflüchteten beizustehen. Die Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenzen nicht zu schließen, habe er voll und ganz unterstützt.
Umso beschämter zeigte sich Wagner jetzt angesichts der Veränderungen in der Debatte gegenüber Geflüchteten. Obwohl deren Zahl massiv gesunken ist, werde ihre Einreise nun als großes Problem dargestellt, während ihre Schicksale in der Debatte häufig untergingen. Anstatt Fluchtursachen wie den Waffenhandel und ungerechte Wirtschaftsstrukturen zu kritisieren, würden Geflüchtete und ihre Retter kriminalisiert.
Als mögliche Erklärung für diesen Gesinnungswandel bot der Psychologe die Tendenz vieler Menschen an, die Augen vor Problemen zu verschließen, die sie selber nicht lösen können. Indem sie andere zu „Schuldigen“ erklären, seien sie dann nicht mehr verantwortlich für das Elend der welt.
Dennoch endete Wagners Rede mit großer Genugtuung. „Wir hatten 30 bis 80 Menschen hier erwartet“, erklärte er. „Es erfüllt mich mit Freude und Hoffnung, das hier heute so viele Menschen gekommen sind.“
Im Anschluss an die Kundgebung liefen knapp 500 Menschen mit Forderungen wie „Seebrücke statt Seehofer“ vom Marktplatz durch die Marktgasse, die Wettergasse und die Neustadt, den Steinweg hinab und durch den Pilgrimstein, die Deutschhausstraße und die Biegenstraße zum Gerhard-Jahn-Platz. Bei den Lahnterassen am Elisabeth-Blochmann-Platz endete die Demonstration der Gruppe „Seebrücke Marburg“ mit einem Gruppenfoto. Angesichts der – inzwischen auf gut 800 Teilnehmende angewachsenen – Menge fanden darauf jedoch lange nicht alle Demonstrierenden Platz.

* Franz-Josef Hanke

Ein Kommentar zu “Gegen moralische Insolvenz: Gut 800 Menschen demonstrierten für Seenotrettung

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