Angefangen: Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“

Die Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“ begann am Montag (21. Oktober). Sie wird vom Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg in Zusammenarbeit mit der Universitätsstadt Marburg durchgeführt.

Seit mehr als zwanzig Jahren organisiert das Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg die Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“. Diese Reihe behandelt eine Vielzahl von Themen, darunter Krieg und Frieden, Gewalt und Rassismus, soziale Bewegungen sowie die Klimakrise, Ungleichheit und Armut. In den letzten drei Semestern hat sich die Vortragsreihe als äußerst erfolgreich erwiesen. Prof. Dr. Thorsten Bonacker, der das Programm dieses Wintersemester leitet, zeigte sich beeindruckt vom starken Zuspruch; der historische Rathaussaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Dies unterstreiche die Ziele der Vortragsreihe: Die Themen werden in enger Zusammenarbeit zwischen Universität und Stadt ausgewählt. Sie konzentrieren sich auf wissenschaftlich fundierte Fragen mit hoher gesellschaftlicher Relevanz. Im Fokus stehen Anliegen, die in der öffentlichen Debatte von Bedeutung sind und die Bevölkerung bewegen.

Ein zentrales Anliegen der Reihe sei die Förderung der „evidence-based policy“. Dabei stehe die Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in die gesellschaftliche und politische Praxis im Vordergrund. In diesem Semester wurde zudem ein neues Format eingeführt: Bürgerinnen und Bürger konnten vor der Veranstaltung Fragen über die Oberhessische Presse einreichen. Der Vortrag wurde dann so gestaltet, dass diese Fragen beantwortet wurden. Zudem gab es am Ende die Möglichkeit für eine Diskussion mit dem Publikum.

Den Auftakt der Vortragsreihe machte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. André Brodocz aus Erfurt mit einem Vortrag zum Thema „Was Sie schon immer über Thüringen wissen wollten“.

Im Mittelpunkt des Vortrags standen die drei letzten Landtagswahlen in Thüringen – 2014, 2019 und 2024. Diese Wahlen kennzeichnen wichtige politische Umbrüche. Jede von ihnen wird auf ihre Weise als „Novum“ in der politischen Geschichte des Bundeslandes betrachtet. Brodocz wies darauf hin, dass die Wahlergebnisse in Thüringen häufig zu schnell auf eine Ost-West-Differenzierung reduziert werden. Das lenke jedoch von anderen entscheidenden Aspekten ab, die aus demokratietheoretischer Sicht relevant sind. In diesem Zusammenhang hob er drei wesentliche Phänomene hervor: die Rolle der Opposition und die Abwahl von Regierungen, den Wandel von einer Interessen- zu einer Identitätspolitik und die Verschiebung der repräsentativen Demokratie von einer Parteiendemokratie hin zu einer Publikumsdemokratie.

Bodo Ramelow wurde 2014 zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt. Er war der erste Ministerpräsident der Linkspartei und bildete damit erstmals eine rot-rot-grüne Koalition im Land. Nach dieser Wahl stieg die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie erheblich. Während der langjährigen CDU-Regierungszeit lag sie bei etwa 50 %. Nun kletterte sie auf über 60 %. Dieser Anstieg verdeutlicht, dass Wahlen nicht nur eine Auswahl, sondern auch eine Abwahl von Parteien ermöglichen. Sie bestätigen das demokratische Versprechen, Veränderungen herbeizuführen. Besonders die Wählerinnen und Wähler der Linken und Grünen, die 2014 Teil der Koalition wurden, gewannen neues Vertrauen in die Demokratie.

Bei den Landtagswahlen 2019 wurde die Linkspartei unter Ramelow erneut stärkste Fraktion im Parlament und konnte ihr Wahlergebnis sogar verbessern. Dennoch verlor die rot-rot-grüne Landesregierung ihre absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze. Dieses Ergebnis war überraschend, da die Regierungsbilanz insgesamt positiv war. Die Arbeitslosenquote war während der Amtszeit von 8 % auf 5 % gesunken. Auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes war gestiegen. Trotz dieser Erfolge gelang es der Koalition jedoch nicht, ihre Mehrheit zu verteidigen.

Laut Brodocz verdeutlicht der Wahlverlauf einen klaren Wandel von der Interessen- hin zur Identitätspolitik. Für viele Wählerinnen und Wähler treten wirtschaftliche oder soziale Anliegen zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen gewinnt die politische Identität an Bedeutung. Dies wirke sich auf die Art und Weise aus, wie politische Konflikte ausgetragen werden. Interessenskonflikte lassen sich oft durch gemeinsame Schnittmengen lösen. Identitätskonflikte seien jedoch schwieriger zu bewältigen, da sie häufig das Aushandeln eines Teils der eigenen Identität erfordern. Die Herausforderung bestehe daher darin, solche Konflikte auf zivilisierte Weise zu klären. Es liege in der Verantwortung aller, einen respektvollen und konstruktiven Dialog zu fördern, der verschiedene Identitäten wertschätzt.

Ein weiterer entscheidender Faktor bei den Wahlen 2019 war der massive Erfolg der AfD. Sie gewann nicht nur Wählerinnen und Wähler von anderen Parteien, sondern mobilisierte insbesondere auch viele Nichtwähler*innen. Spitzenkandidat Björn Höcke schnitt jedoch im persönlichen Zufriedenheitswert schlechter ab als die Partei selbst. Dies deutet darauf hin, dass die AfD im Jahr 2019 vor allem aus Protest gewählt wurde und weniger aus einer persönlichen Identifikation mit ihren Führungspersönlichkeiten.

Die Landtagswahl 2019 in Thüringen markierte einen historischen Umbruch. Sie führte zu einer Regierungskrise und einer politischen Blockade. Erstmals konnten die etablierten Parteien – CDU, SPD, FDP und Grüne – keine parlamentarische Mehrheit bilden. Sie erreichten lediglich etwa 40 % der Stimmen. Die CDU schloss eine Zusammenarbeit mit der AfD und der Linkspartei kategorisch aus. Dies führte zu einer Blockade, die mehr als drei Monate anhielt und drei Wahlgänge für die Ministerpräsidentenwahl erforderte. Schließlich wurde der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich gewählt. Er war der erste Ministerpräsident einer Fraktion, die gerade so mit 5 % den Landtag erreicht hatte. Seine Wahl zum Ministerpräsidenten wurde darüber hinaus erstmals durch die Stimmen der AfD ermöglicht. Am Tag nach seiner Wahl trat er jedoch zurück. Daraufhin wurde eine Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen gebildet. Bodo Ramelow wurde erneut zum Ministerpräsidenten gewählt.

Dieses Szenario verdeutliche laut Brodocz die Oppositionskrise der CDU in Thüringen und hebe die Bedeutung einer effektiven Opposition für das Funktionieren der Demokratie hervor. Die CDU blockierte sich durch ihre strikte Abgrenzung von der AfD und die Weigerung, mit der rot-rot-grünen Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow zusammenzuarbeiten, selbst. Dies führte dazu, dass sie weder eine eigene Regierung bilden noch als konstruktive Oppositionskraft auftreten konnte. Eine funktionierende Demokratie setzt jedoch voraus, dass die Opposition die Regierung überwacht und alternative politische Lösungen präsentiert. In Thüringen gelang es der CDU nicht, diese Rolle zu erfüllen. Daher konnte die Minderheitsregierung Ramelows ihre gesamte Legislaturperiode nicht auf eigene Stärke stützen, sondern überdauerte vielmehr aufgrund des politischen Stillstands, den die oppositionsunfähige CDU herbeiführte.

Brodocz zog schließlich die Verbindung zur Gegenwart und betrachtete die Landtagswahlen in Thüringen in diesem Jahr. Die Ergebnisse waren alarmierend: Die AfD erhielt über 30 % der Stimmen, gefolgt von der CDU mit 23 %. Die Linke erlitt einen dramatischen Rückgang auf 13 %. Besonders bemerkenswert war der Erfolg des im März gegründeten Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), das auf Anhieb fast 16 % der Stimmen erzielte. Im Gegensatz dazu schafften es die Grünen und die FDP nicht, in den Landtag einzuziehen. Diese Wahl resultiert in einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Landschaft. Die Sitzverteilung hat sich stark gewandelt und die traditionellen Parteien sind geschwächt. Neue Akteure wie die AfD und das BSW konnten dagegen erhebliche Erfolge verbuchen.

Einen entscheidenden Grund für den Erfolg von AfD und BSW sieht Brodocz im Wandel unserer repräsentativen Demokratie von einer Parteien- zu einer Publikumsdemokratie. Früher war die Wahl oft ein Ausdruck sozialer Identität. Dabei stand die Zugehörigkeit zu einer Partei und deren Werte im Vordergrund. Heute gewinnen Persönlichkeiten im politischen Wettbewerb zunehmend an Bedeutung. Dieser Wandel ist eng mit der medialen Präsenz und Inszenierung der Kandidierenden verbunden. Medientauglichkeit und ein starkes Image sind heute ausschlaggebend für den Wahlerfolg. Laut Brodocz bevorzugen Wählende Kandidierende, die sich von anderen abheben und als überlegen wahrgenommen werden. Ob diese Persönlichkeiten tatsächlich herausragende Fähigkeiten besitzen, spielt dabei eine geringere Rolle; entscheidend ist, wie sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Da zukünftige politische Herausforderungen immer unvorhersehbarer werden, verlieren Parteiprogramme in der aktuellen politischen Landschaft an Bedeutung. Wählende vertrauen zunehmend Personen, von denen sie glauben, dass sie in einer unsicheren Zukunft in ihrem Sinne agieren werden. Wahlentscheidungen sind somit auch eine Reaktion auf aktuelle Themen und Konflikte.

Das Ergebnis der AfD bei der Landtagswahl 2024 sei Brodozc zufolge daher nicht mehr lediglich Ausdruck eines Protests, wie es möglicherweise noch 2019 der Fall war. Es spiegle eine echte Wertschätzung der Spitzenkandidaten wider. Diese Entwicklung mache eine strategische Neuausrichtung der anderen Parteien notwendig. Um die Wählerschaft zurückzugewinnen, reiche es nicht aus, lediglich Kritik an den erstarkten Parteien zu üben. Entscheidend wird sein, überzeugende Persönlichkeiten zu präsentieren, die das Vertrauen der Wähler gewinnen und als glaubwürdige Führungsfiguren gelten.

Der Ausblick auf die kommenden Veranstaltungen der Vortragsreihe verspricht spannende Einblicke in aktuelle gesellschaftliche und politische Themen. Dazu zählen die Wahlen in den USA, die Herausforderungen unserer Demokratie sowie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der nächste Vortrag findet am Montag (4. November) statt. Sein Titel lautet: „Wenn zwei sich streiten, sieht der Dritte mehr: Einige logische und soziologische Implikationen stabiler Konflikte“. Referent ist der Professor für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Dr. Armin Nassehi. Die Veranstaltung beginnt um 18:30 Uhr in der Aula der Alten Universität.

*Leonie Schulz

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