Angefangen: Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“

Die Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“ begann am Montag (21. Oktober). Sie wird vom Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg in Zusammenarbeit mit der Universitätsstadt Marburg durchgeführt.

Den Auftakt der Reihe machte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. André Brodocz aus Erfurt mit einem Vortrag zum Thema „Was Sie schon immer über Thüringen wissen wollten“. Im Mittelpunkt standen die drei letzten Landtagswahlen 2014, 2019 und 2024. Diese Wahlen kennzeichnen wichtige politische Umbrüche. Jede von ihnen wird auf ihre Weise als „Novum“ in der politischen Geschichte des Bundeslandes betrachtet.

Brodocz wies darauf hin, dass die Wahlergebnisse in Thüringen häufig zu schnell durch eine Ost-West-Erklärung reduziert werden. Das lenke jedoch von anderen Aspekten ab, die aus demokratietheoretischer Sicht relevant seien. In diesem Zusammenhang hob er drei wesentliche Phänomene hervor: die Rolle der Opposition sowie die Bedeutung der Abwahl von Regierungen, den Wandel von einer Interessen- zu einer Identitätspolitik und schließlich die gegenwärtige Verschiebung der repräsentativen Demokratie von einer Parteien- hin zu einer Publikumsdemokratie.

Bodo Ramelow wurde 2014 zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt. Er war der erste Ministerpräsident der Linkspartei und bildete damit erstmals eine rot-rot-grüne Koalition im Land. Nach dieser Wahl stieg die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie erheblich.

Während der langjährigen CDU-Regierungszeit hatte sie bei etwa 50 % gelegen. Nun kletterte sie auf über 60 %. Dieser Anstieg verdeutlicht, dass Wahlen nicht nur eine Auswahl, sondern auch eine Abwahl von Parteien ermöglichen. Sie bestätigen das demokratische Versprechen, Veränderungen herbeizuführen. Besonders die Wählerinnen und Wähler der Linken und Grünen, die 2014 Teil der Koalition wurden, gewannen neues Vertrauen in die Demokratie.

Bei den Landtagswahlen 2019 wurde die Linkspartei unter Ramelow erneut stärkste Fraktion im Parlament und konnte ihr Wahlergebnis sogar verbessern. Dennoch verlor die rot-rot-grüne Landesregierung ihre absolute Mehrheit. Dieses Ergebnis war überraschend, da die Regierungsbilanz insgesamt positiv war. Die Arbeitslosenquote war während der Amtszeit von 8 % auf 5 % gesunken. Auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes war gestiegen. Trotz dieser Erfolge gelang es der Koalition nicht, ihre Mehrheit zu verteidigen.

Laut Brodocz verdeutlicht der Wahlverlauf einen klaren Wandel von einer Interessen- hin zu einer Identitätspolitik. Für viele Wählerinnen und Wähler träten wirtschaftliche oder soziale Anliegen zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen gewinne die politische Identität an Bedeutung. Das wirke sich darauf aus, wie politische Konflikte ausgetragen werden. Interessenskonflikte ließen sich oft durch gemeinsame Schnittmengen lösen. Identitätskonflikte seien jedoch schwieriger zu bewältigen, da sie häufig das Aushandeln eines Teils der eigenen Identität erfordern. Die Herausforderung bestehe darin, solche Konflikte auf zivilisierte Weise zu klären. Es liege in der Verantwortung aller, einen respektvollen und konstruktiven Dialog zu fördern, der verschiedene Identitäten wertschätzt.

Ein weiterer entscheidender Faktor bei den Wahlen 2019 war der massive Erfolg der AfD. Sie gewann nicht nur Wählerinnen und Wähler von anderen Parteien, sondern mobilisierte insbesondere viele Nichtwähler*innen. Spitzenkandidat Björn Höcke schnitt im persönlichen Zustimmungswert allerdings schlechter ab als die Partei selbst. Das deutet darauf hin, dass die AfD 2019 vor allem aus Protest gewählt wurde und weniger aus einer persönlichen Identifikation mit ihren Führungspersönlichkeiten.

Die Landtagswahl 2019 markiert einen historischen Umbruch. Sie führte zu einer Regierungskrise. Erstmals konnten CDU, SPD, FDP und Grüne keine parlamentarische Mehrheit bilden. Sie erreichten lediglich etwa 40 % der Stimmen. Die CDU schloss eine Zusammenarbeit mit der AfD und der Linkspartei kategorisch aus.

Das führte zu einer Blockade, die mehr als drei Monate anhielt und drei Wahlgänge für die Ministerpräsidentenwahl erforderte. Schließlich wurde der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich gewählt. Er war der erste Ministerpräsident einer Fraktion, die gerade so mit 5 % den Landtag erreicht hatte. Seine Wahl wurde außerdem erstmals durch die Stimmen der AfD ermöglicht. Am Tag nach seiner Wahl trat er jedoch wieder zurück. Daraufhin wurde eine Minderheitsregierung aus Linken, SPD und Grünen gebildet. Ramelow wurde erneut Ministerpräsident.

Dieses Szenario verdeutlicht laut Brodocz die Oppositionskrise der CDU in Thüringen. Zudem hebe es die Bedeutung einer effektiven Opposition für das Funktionieren der Demokratie hervor. Durch die Brandmauer zur AfD sowie die strikte Weigerung, mit der rot-rot-grünen Minderheitsregierung zusammenzuarbeiten, blockierte sich CDU selbst. Das führte dazu, dass sie weder eine eigene Regierung bilden noch als konstruktive Oppositionskraft auftreten konnte.

Eine funktionierende Demokratie setze jedoch voraus, dass die Opposition die Regierung überwacht und alternative politische Lösungen präsentiert. In Thüringen gelang es der CDU nicht, diese Rolle zu erfüllen. Daher konnte die Minderheitsregierung Ramelows ihre gesamte Legislaturperiode nicht auf eigene Stärke stützen, sondern überdauerte vielmehr aufgrund des politischen Stillstands, den die oppositionsunfähige CDU herbeiführte.

Schließlich betrachtete Brodocz die Landtagswahlen 2024 und beleuchtete damit die Verbindungen zur Gegenwart. Die Ergebnisse waren alarmierend: Die AfD erhielt über 30 % der Stimmen, gefolgt von der CDU mit 23 %. Die Linke erlitt einen dramatischen Rückgang auf 13 %. Besonders bemerkenswert war der Erfolg des im März gegründeten Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), das aus dem Stand heraus fast 16 % der Stimmen bekam. Im Gegensatz dazu schafften es die Grünen und die FDP nicht, in den Landtag einzuziehen. Dieses Wahlergebnis resultiere in einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Landschaft. Die Sitzverteilung hat sich stark gewandelt und die traditionellen Parteien sind geschwächt. Neue Akteure wie die AfD und das BSW konnten dagegen erhebliche Erfolge verbuchen.

Einen entscheidenden Grund für den Erfolg von AfD und BSW sieht Brodocz im Wandel unserer repräsentativen Demokratie von einer Parteien- hin zu einer Publikumsdemokratie. Früher sei die Wahl oft ein Ausdruck sozialer Identität gewesen. Dabei stand die Zugehörigkeit zu einer Partei und deren Werte im Vordergrund. Heute gewinnen Persönlichkeiten im politischen Wettbewerb zunehmend an Bedeutung. Dieser Wandel sei eng mit der medialen Präsenz und Inszenierung der Kandidierenden verbunden. Medientauglichkeit und ein starkes Image seien heute ausschlaggebend für den Wahlerfolg.

Laut Brodocz bevorzugen Walhberechtigte Kandidierende, die sich von anderen abheben und als überlegen wahrgenommen werden. Ob diese Persönlichkeiten tatsächlich herausragende Fähigkeiten besitzen, spiele dabei eine geringere Rolle; entscheidend sei, wie sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Da zukünftige politische Herausforderungen immer unvorhersehbarer werden, verlieren Parteiprogramme an Bedeutung. Wählende vertrauen zunehmend Personen, von denen sie glauben, dass sie in einer unsicheren Zukunft in ihrem Sinne agieren werden. Wahlentscheidungen seien somit auch eine Reaktion auf aktuelle Konflikte.

Das Ergebnis der AfD bei der Landtagswahl 2024 ist Brodozc zufolge daher nicht mehr lediglich Ausdruck eines Protests, wie es 2019 möglicherweise noch der Fall war. Es spiegle eine echte Wertschätzung der Spitzenkandidaten wider. Diese Entwicklung mache eine strategische Neuausrichtung der anderen Parteien notwendig. Um die Wählerschaft zurückzugewinnen, reiche es nicht aus, lediglich Kritik an den erstarkten Parteien zu üben. Entscheidend werde sein, überzeugende Persönlichkeiten zu präsentieren, die das Vertrauen der Wähler gewinnen und als glaubwürdige Führungsfiguren gelten.

Seit mehr als zwanzig Jahren organisiert das Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität die Vortragsreihe „Konflikte in Gegenwart und Zukunft“. In den letzten drei Semestern hat sich die Reihe als äußerst erfolgreich erwiesen. Prof. Dr. Thorsten Bonacker, der das Programm leitet, zeigte sich beeindruckt vom starken Zuspruch; der historische Rathaussaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Das unterstreiche die Ziele der Vortragsreihe: Die Themen werden in enger Zusammenarbeit zwischen Universität und Stadt ausgewählt. Sie konzentrieren sich auf wissenschaftlich fundierte Fragen mit hoher gesellschaftlicher Relevanz. Im Fokus stehen Anliegen, die in der öffentlichen Debatte von Bedeutung sind und die Bevölkerung bewegen.

Der Ausblick auf die kommenden Veranstaltungen der Vortragsreihe verspricht spannende Einblicke in aktuelle politische Themen. Dazu zählen die Wahlen in den USA, die Herausforderungen unserer Demokratie sowie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der nächste Vortrag findet am Montag (4. November) statt. Sein Titel lautet: „Wenn zwei sich streiten, sieht der Dritte mehr: Einige logische und soziologische Implikationen stabiler Konflikte“. Referent ist der Professor für Soziologie Dr. Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Die Veranstaltung beginnt um 18:30 Uhr in der Aula der Alten Universität.

*Leonie Schulz

Kommentare sind abgeschaltet.