Laiizismus scheiterte: CNMS erforscht Atheismus in der Türkei

Fordert Atheismus die herrschende Elite der Türkei heraus, sofern er im öffentlichen Raum sichtbar ist? Fragen wie diese stehen im Fokus eines neuen Forschungsprojekts.
Seit Kurzem ist es am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) angesiedelt. Das Vorhaben mit dem Titel „Glücklich ist derjenige, der sich Atheist nennt – Atheismus und die politische Bedeutung von Kultur in der zeitgenössischen Türkei“ ist Teil des Programms „Blickwechsel: Studien zur zeitgenössischen Türkei“ der „Stiftung Mercator“. Sie fördert die Arbeit am Fachgebiet Islamwissenschaft der Philipps-Uiversität mit 300.000 Euro.
„Die Bedeutung des Themas Atheismus ist im Zusammenhang mit dem Kulturkampf zu sehen, der sich gegenwärtig in der Türkei vollzieht“, erklärte der Islamwissenschaftler Dr. Pierre Hecker, der das Vorhaben leitet. Schon seit geraumer Zeit strebe die herrschende Elite danach, die von ihr favorisierte Kultur eines frommen Konservatismus zur gesellschaftlichen Norm zu erheben, um auf diese Weise ihre politische Macht in Staat und Gesellschaft zu festigen.
„Wir verstehen Kultur als ein Feld politisch-ideologischer Auseinandersetzungen“, führte der Islamwissenschaftler aus. Moralisch-religiös sensible Themen wie Nacktheit, Sexualität, Alkoholkonsum, Evolutionsbiologie oder Religionskritik unterlägen in der Türkei in zunehmendem Maße einer systematischen Verbannung aus Bildung und Medien; gleichzeitig ließen sich eine Stärkung religiöser Bildungsangebote durch den Staat ebenso beobachten wie eine zunehmende Sichtbarkeit religiöser Referenzen und Symboliken in Politik und Gesellschaft.
„Das erklärte Ziel der Erziehung einer neuen, religiösen Generation stellt das bisherige Modell des türkischen Säkularismus und die sich aus diesem speisende nationale Identität zunehmend in Frage“, erläuterte Hecker. Praktiken eines nicht-religiösen Lebensstils werden in diesem Kontext als widerständig betrachtet.
Wie Hecker erklärt, existiert bislang so gut wie keine Sekundärliteratur zum Thema Atheismus in der Türkei. Es gebe zwar Daten zu religiöser Zugehörigkeit, die von verschiedenen Meinungsforschungsinstituten erhoben worden seien; diese Daten seien meist aber nur bedingt zuverlässig.
„Das Projektteam analysiert den öffentlichen Diskurs um Atheismus unter anderem über eine systematische Auswertung von Twitter-Daten“, legte Hecker dar. Das geschehe „etwa zum Umgang mit nichtreligiösen Lebensweisen während des Fastenmonats Ramadan, volksverhetzenden Äußerungen von Politikern und Geistlichen gegen Atheistinnen und Atheisten oder dem Gerichtsprozess gegen den international renommierten Komponisten und selbsterklärten Atheisten Fazil Say“.
Das CNMS kooperiert bei diesem Vorhaben mit Wissenschaftlern zweier Istanbuler Hochschulen. Dabei handelt es sich um Prof. Dr. Kaya Akyildiz von der Bahçesehir Universität und Prof. Dr. Ivo Furman von der Bilgi Universität.
Von Mittwoch (14. Februar) bis Freitag (16. Februar) veranstaltet das CNMS in Marburg einen internationalen Workshop unter dem Titel „The Politics of Culture in Contemporary Turkey“. Dabei geht es um die Frage, welche politische Bedeutung dem Feld der Kultur in der aktuellen Auseinandersetzung um Hegemonie und Widerstand in der Türkei zukommt.
Mit ihrem Programm „Blickwechsel: Studien zur zeitgenössischen Türkei“ versucht die Stiftung Mercator, zu einem differenzierteren Bild der Türkei beizutragen, deren Verhältnis zu Deutschland und Europa derzeit stark von tagespolitischen Ereignissen belastet erscheint. Die Stiftung Mercator fördert außerdem den Austausch von Journalisten, Kulturmanagern, Wissenschaftlern, Nachwuchsführungskräften und einer Reihe von zivilgesellschaftlichen Akteuren zwischen Europa, Deutschland und der Türkei.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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