Im Rahmen der Reihe „3.000 Schritte mit dem Oberbürgermeister“ haben Interessierte am Donnerstag (6. Juni) die Marburger Oberstadt neu entdeckt. Ihr Rundgang erfolgte mit Sehbehinderung.
Mülltonnen vor der Treppe, ein kleiner Bordstein, ein Poller mitten auf dem Weg können für Menschen mit einer Sehbehinderung große und gefährliche Hindernisse sein. Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies ist gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) auf einen Spaziergang durch die Oberstadt gegangen – und hat dabei durch eine spezielle Brille ganz neue Einsichten gewonnen.
Zum „Tag der Sehbehinderung“ sind Spies, Vertreter*innen der BliStA und Interessierte auf einen besonderen Spaziergang durch die Oberstadt gegangen. Im Rahmen der Aktion „3.000 Schritte mit dem Oberbürgermeister“ gab es für alle Teilnehmenden ohne Sehbehinderung eine spezielle Brille, die einen „grauen Star“ simuliert und die Sehfähigkeit auf unter 10 Prozent einschränkt. Das sei „eine spannende Idee. Denn genau das hilft, zu verstehen, wie Menschen mit Beeinträchtigungen sich in der Welt – und hier in unserer Stadt – zurechtfinden“, sagte Spies zu Beginn des Spaziergangs. Es sei sinnvoll, wenn mehr Menschen mal ausprobieren, was es bedeute, schlecht sehen oder hören zu können.
„Marburg ist im Vergleich zu anderen Städten sehr vorbildlich und wird zurecht auch Blindenhauptstadt genannt“, lobte der BliStA-Vorstandsvorsitzende Patrick Temmesfeld die Stadt. Sie involviere die BliStA in allen Bereichen rund um Bauvorhaben und auch bei der Absicherung von Baustellen.
„Das ist absolut vorbildlich, wie wir zusammenarbeiten“, erklärte er. „Deswegen freue ich mich auch sehr, dass wir heute gemeinsam dafür sensibilisieren und ausprobieren, wie Menschen mit einer Sehbehinderung die Oberstadt wahrnehmen.“ Das sei eine andere Personengruppe, als blinde Menschen. Sie seien nicht immer sofort als sehbehindert identifizierbar –
und ihnen könnte vieles erleichtert werden, wenn etwa Schilder kontrastreicher sind.
Thorsten Büchner von der BliStA führte die Gruppe blind durch die Oberstadt. Dabei ging es zum Lutherischen Kirchhof mit viel Licht, Schatten und keinen Kontrasten zwischen unterschiedlichen Höhen der grauen Pflastersteine –
sowie einer wunderschönen Aussicht über die Stadt, die mit der Spezialbrille zu Farbklecksen wurde. Als „Abenteuer“ kündigte Büchner dann den Abstieg über die Wendeltreppe zur Wendelgasse an.
Dieses Abenteuer verlangte den Teilnehmenden dann einiges ab: Es gab Stufen mit unterschiedlichen Höhen und Breiten; Handläufe, die zu spät beginnen und plötzlich enden; Handläufe, die genau neben der Rampe für Rollstühle und Kinderwagen angebracht sind; Mülleimer, die direkt am Ende der Handläufe abgestellt werden und dann auch noch ein Gerüst, das den Gehweg plötzlich deutlich schmälert.
Wie erleben Menschen mit Sehbeeinträchtigung wundervolle Aussichten oder Sehenswürdigkeiten? Wie klappt das mit dem Einkaufen? Wie gut sind eigentlich Flyer lesbar? Und welche Hilfsmittel gibt es, um Menschen mit Sehbeeinträchtigungen das Leben zu erleichtern oder die Sehfähigkeit zu verbessern? Auch dazu gab es viel Input, viel Hautnahes erleben und einige Gespräche.
„Ich kam zurecht. Aber ich kenne Marburg auch“, zog Spies nach der Runde sein Fazit. „In einer fremden Stadt wäre ein solcher Spaziergang für mich unvorstellbar mit dieser Spezialbrille.“ Ihm seien viele Stellen aufgefallen, an denen auf einmal kein Geländer mehr gewesen sei oder, wo er plötzlich ins Leere getreten habe. „Solche Erfahrungen sind sehr wichtig, um sie bei der Stadtplanung zu berücksichtigen – damit wir Mobilität und Teilhabe für alle Menschen ermöglichen können.“
* pm: Stadt Marburg