Der Landkreis Marburg-Biedenkopf möchte das Gemeinwohl weiter stärken. Deshalb durchläuft die Kreisverwaltung als erste in Deutschland einen Bilanzierungs-Prozess im Hinblick auf Gemeinwohl-Kriterien.
Als erste Kreisverwaltung in Deutschland erfasst die Kreisverwaltung Marburg-Biedenkopf den Beitrag ihres Handelns für das Gemeinwohl. Das Ziel ist, transparent und ehrlich einen Blick auf das eigene Handeln zu werfen und zu schauen, was gut läuft und wo es noch Potential für Verbesserungen gibt. Damit möchte der Kreis das Wohl der Gesellschaft weiter nachhaltig und zielgerichtet stärken und fördern.
Doch was ist eigentlich die sogenannte „Gemeinwohl-Ökonomie“ (GWÖ), nach deren Kriterien sich die Kreisverwaltung durch eine Selbsteinschätzung bilanzieren lässt? Die Gemeinwohl-Ökonomie bezeichnet ein alternatives Wirtschaftssystem, das auf Werten aufgebaut ist, die das Wohl der Gesellschaft fördern und aktiv zum Gemeinwohl und zur langfristigen Nachhaltigkeit beitragen. Damit ist sie eine alternative Perspektive zu einem rein gewinnorientierten Wirtschaftssystem. Denn anders als in klassischen Wirtschaftsmodellen geht es hier nicht darum, finanzielle Gewinne zu erzielen.
Vielmehr setzt die Gemeinwohl-Ökonomie auf die Förderung des Gemeinwohls als oberstes Ziel wirtschaftlichen Handelns. Darunter fallen Werte wie soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Solidarität und demokratische Mitbestimmung. Die GWÖ-Bilanzierung ist daher ein Instrument für die weitere Umsetzung dieser Ziele vor Ort. Sie ist ein wichtiger Schritt, um die Erfüllung der nachhaltigen Entwicklungsziele der Kreisverwaltung weiter zu verbessern.
„Als Kreisverwaltung tragen wir eine besondere Verantwortung für das Gemeinwohl“, betonte Landrat Jens Womelsdorf. „Das ergibt sich schon aus unseren vielfältigen Aufgaben beispielsweise Klima- und Naturschutz oder unsere Aufgaben im sozialen Bereich. Dafür leisten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung bereits jetzt hervorragende Arbeit.“
Mit dieser Bestandsaufnahme solle nun eine solide Grundlage geschaffen werden, um das Verwaltungshandeln im Hinblick auf das Gemeinwohl zu messen und anschließend noch sichtbarer zu machen. Die Ergebnisse sollen dann als Grundlage für weitere Optimierungen dienen, wenn und wo es nötig ist. Allerdings gehe es für eine Kreisverwaltung als staatliche Behörde natürlich grundsätzlich um das Gemeinwohl und nicht um Gewinnmaximierung, erläuterte der Landrat.
Die Motivation zu diesem Bilanzierungs-Prozess sei aber der Leitgedanke: „Wir wollen wissen, wie gut wir schon sind. Und schauen, was vielleicht noch etwas besser werden könnte. Nicht um unserer selbst willen, sondern um auch einen nachhaltigen Beitrag für kommende Generationen zu leisten“, machte der Landrat deutlich. Grundlage für die Bestandsaufnahme der Kreisverwaltung ist zudem ein entsprechender Kreistagsbeschluss.
Die – für die GWÖ-Bilanzierung relevanten – Organisationseinheiten der Kreisverwaltung werden im Rahmen des Prozesses alle notwendigen Leistungen und Angebote anhand verschiedener Fragestellungen betrachten, selbstkritisch hinterfragen und im Anschluss bewerten. Für diesen zentralen Schritt werden die betroffenen Organisationseinheiten in unterschiedliche Gruppen unterteilt.
in der sogenannten „Berührungsgruppe“ A beispielsweise geht es unter anderem um die Thematik der externen Beschaffungen für die Kreisverwaltung. Deshalb sind dieser Gruppe unter anderem die zentrale Vergabestelle, das technische Gebäudemanagement und verschiedene Verwaltungsfachdienste des Kreises zugeordnet. Im Fokus stehen dabei beispielsweise zunächst die Abfrage und Auswertung, welche wesentlichen Produkte oder Dienstleistungen die Kreisverwaltung von außen bezieht.
Betrachtet werden in diesem Beispiel somit alle wichtigen eingekauften Produkte und Dienstleistungen. Anschließend werden sie unter anderem dahingehend bewertet, ob während der kompletten Liefer- und Wertschöpfungskette faire Arbeitsbedingungen sichergestellt sind oder wie transparent der Umgang mit Lieferantinnen und Lieferanten ist. Im nächsten Schritt sollen konkrete Ansätze, Maßnahmen und Bewertungskriterien für den Praxisalltag erarbeitet werden, um bei zukünftigen Einkäufen sicherzustellen, dass soziale und ökologische Belastungen verhindert und ausgeschlossen werden.
Unterstützt werden die Organisationseinheiten von einem externen Fach- und Beratungsteam aus Expertinnen und Experten sowie einer Steuerungsgruppe aus Mitarbeitenden verschiedener Querschnittsämter innerhalb der Kreisverwaltung. „Für die Kreisverwaltung ist diese GWÖ-Bilanzierung vor allem ein wichtiges Instrument, um unsere Werte und Ziele noch besser zu konkretisieren und transparenter zu kommunizieren“, erklärte Landrat Womelsdorf. „Zum anderen erhalten wir viele hilfreiche und wichtige Erkenntnisse über unsere eigenen Prozesse.“
Darin sind sich Landrat Womelsdorf und Daniel Schleicher einig, der der zuständige Projektmanager im Fachdienst Kreisentwicklung und Klimaschutz ist. „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit all den unterschiedlichen Projektbeteiligten und Kolleginnen und Kollegen“, sagte Schleicher.
Erste Erfahrungen mit einer Bewertung nach Gemeinwohl-Kriterien hat der Kreis schon 2019 gemacht. Damals wurde der Eigenbetrieb „Jugend- und Kulturförderung“ bilanziert und zertifiziert.
Zusammenfassend umfasst die Bilanzierung unter anderem die Öffentliche Beschaffung nach ethischen Kriterien, Finanzmanagement mit sinnstiftendem und nachhaltigem Einsatz der finanziellen Ressourcen sowie den Umgang des Kreises mit Mitarbeitenden und ehrenamtlich Engagierten im Hinblick auf Werte wie freie Persönlichkeitsentfaltung und Gleichberechtigung. Auch die Beziehung der Kreisverwaltung zu den Bürgerinnen und Bürgern und wirtschaftlichen Akteurinnen und Akteuren im Landkreis sind Teil der Bilanzierung. Die Rückmeldungen aus den einzelnen Organisationseinheiten werden anschließend zu einem Bericht zusammengestellt, der die Grundlage einer GWÖ-Zertifizierung für die Kreisverwaltung bildet.
Die erste Bilanzierung betrachtet der Kreis als Erfassung des sogenannten „Status-Quo“. Damit hat sie den Charakter einer „Erstbilanz“. Die Kreisverwaltung Marburg-Biedenkopf wird daher in regelmäßigen Abständen den Prozess der Bilanzierung durchlaufen.
Die Zertifizierung, die der Landkreis nach der Erstellung seines Berichts durch eine externe Testierung erhält, ist zwei Jahre gültig. Nach dieser Zeit durchlaufen alle Organisationseinheiten den Prozess der Beantwortung der jeweiligen Berichtsfragen erneut. Dadurch können die selbst gesteckten Ziele aus der vorherigen Bilanz überprüft, gegebenenfalls korrigiert und neu bewertet werden. Weitere Informationen zu dem Projekt der GWÖ-Bilanzierung gibt es auf der Homepage des Kreises unter www.marburg-biedenkopf.de/gemeinwohl.
Zu vielen Werten und Zielen, die in der Gemeinwohl-Ökonomie im Fokus stehen, hat sich der Kreis ohnehin bereits mit der Unterzeichnung der „Agenda 2030“ und ihrer Verankerung auf kommunaler Ebene verpflichtet. Darunter sind beispielsweise die Umsetzung einer hochwertigen Bildung, Geschlechter-Gleichheit oder Maßnahmen zum Klimaschutz. Im November 2023 ist der Landkreis darüber hinaus mit einer Urkunde als „Global Nachhaltige Kommune Hessen“ ausgezeichnet worden.
Mit der – im Jahr 2015 verabschiedeten – „Agenda 2030“ hat sich die Weltgemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen zu 17 globalen Zielen für eine bessere Zukunft verpflichtet. Diese 17 UN-Nachhaltigkeitsziele werden auch als „Sustainable Development Goals“ (SDGs) bezeichnet. Sie sind quasi ein globaler Aktionsplan. Die GWÖ kann daher als konkrete Umsetzung der SDGs auf operativer Ebene betrachtet werden, da sie auf ethischen Prinzipien und Werten basiert, die mit den Zielen der Nachhaltigkeitsagenda übereinstimmen.
* pm: Landkreis Marburg-Biedenkopf