Ein Vortrag von Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt veranlasst den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) zu Kritik. Der ehemalige Leiter der Kinder- und Jugendpsychatrie sprach dabei über die Verstrickungen der Gründungsväter seiner ehemaligen Wirkungsstätte in das System des Nationalsozialismus.
Dabei hatte sich Remschmidt von Hermann Stutte und Werner Villinger distanziert. Simone Woolf vom Autonomen FrauenLesbenReferat ist sehr verwundert über die unkritische Berichterstattung der Oberhessischen Presse (OP) von Montag (6. Februar): „Gerade Helmut Remschmidt hat in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass er weder die Sprache noch die Handlungen seines Vorgängers Hermann Stutte für verwerflich hält.“
In den 90er Jahren gab es in der Oberhessischen Presse dank der engagierten Journalistin Agnes Schönberger eine zehnteilige Reihe über die Verstrickungen des SA- und NSdAP-Mitglieds Stutte in den Nationalsozialismus.
Diese Reihe löste eine große Debatte aus, die sowohl in der OP als auch in der Marburger Universitätszeitung geführt wurde. Auf Nachfrage der Journalistin äußerte Remschmidt sich damals nur mit „Ich kenne keinen Fall Stutte“ und bezeichnete – zum Auftakt der Debatte in der Marburger Universitätszeitung – die Vorwürfe gegen Stutte als Unterstellungen.
So schrieben Remschmidt und andere am 22. Oktober 1992 in der Universitätszeitung: „Wir vertreten entschieden die Meinung, das Geist und Greultaten des Nationalsozialismus und des Kommunismus gleichermaßen aufgedeckt und bekannt gemacht werden müssen. Bei Hermann Stutte, der in keinem der beiden Lager stand, ist nichts Ehrenrühriges aufzudecken. Er ist ein ungeeigneter Bezugspunkt vergangenheitskritischer Aufarbeitung.“
In dieser Stellungnahme wird die Position Remschmidts im Bezug auf kritische Auseinandersetzung mit der Nachwirkung des Nationalsozialismus deutlich. Immer wieder verwies er in seiner Argumentation darauf, dass Stutte ein „hilfsbereiter Mensch“ und „hochverdienter Arzt“ sei.
Spätestens seit Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ sollte deutlich geworden sein, dass die Täter des Nationalsozialismus keine Monster, sondern durchaus auch hilfsbereite und nette Menschen gewesen sein konnten, was sie nicht daran gehindert hat, an einem mörderischen Programm mitzuwirken. In dem OP – Artikel wird deutlich, dass Remschmidt die Forschung Stuttes „Über Schicksal, Persönlichkeit und Sippe ehemaliger Fürsorgezöglinge“ – so lautet der Titel der Habilitation – als „genetische Untersuchungen“ verharmlost und gleichzeitig dadurch deutlich macht, wie es um eine wissenschaftskritische und -historische Auseinandersetzung der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie bestellt ist.
Stuttes Habil-Vater war der überzeugte Nationalsozialist Hermann Fritz Hoffmann. Der Ortsvorsitzende der „“Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“ bezeichnete Stuttes Schrift als eine „der wichtigsten Untersuchungen auf dem Gebiet der Asozialen“.
Diese Habilitationsarbeit gilt bis heute als verschwunden. Doch das eugenische Gedankengut der Psychiater Stutte und Villinger verschwand mit dem Ende der NS-Diktatur 1945 nicht. Noch 1948 veröffentlichten sie in einem renommierten Ärztemagazin „Der Nervenarzt“ einen Text und verwiesen die Fürsorgeerziehung auf die „sozialbiologische Unterwertigkeit des von ihr betreuten Menschenmaterials“.
Remschmidt hält die Beteiligung Villingers an den NS-Verbrechen für „zumindest fraglich“. Villingers Beteiligung und Anordnung von Zwangssterilisationen zur Erfüllung des „rassenhygienischen“ Gedankens ist bei Forschern unumstritten.
Daher fragt Dorian Zuck vom Referat für Homosexualität, Kultur und Wissenschaft: „Wie kommt Remschmidt darauf, die Beteiligung Villingers an NS-Verbrechen in Frage zu stellen? Zwangssterilisierungen sind Teil der NS-Verbrechen, die bis heute noch – so offensichtlich auch von Remschmidt – verharmlost werden.“
Villinger war von 1936 bis 1939 Chef bei den Bodelschwinghschen Anstalten Bethel und ließ dort massenhaft sterilisieren. 1961 wurde er im Ausschuss für Wiedergutmachung des Deutschen Bundestags als Sachverständiger befragt und ist maßgeblich mitverantwortlich dafür, dass es bis heute keine Entschädigungen für Zwangssterilisierte gibt.
Ebenso prägte er den Begriff der Entschädigungsneurose: „Entschädigen wir, so läuft man natürlich Gefahr, daß eine gewisse Neurotisierung dieser Sterilisierten stattfindet. Bespricht man die Dinge in der Öffentlichkeit sehr eingehend, so läuft man Gefahr, daß wiederum eine Welle von Neurosen erzeugt wird, besonders heute, wo die Rechtsansprüche gegenüber Staat und Gesellschaft beim einzelnen in einer sehr starken Weise zugenommen haben. Es ist die Frage, ob dann nicht neurotische Beschwerden und Leiden auftreten, die nicht nur das bisherige Wohlbefinden und – sagen wir – die Glücksfähigkeit dieser Menschen, sondern auch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist mit besonderer Vorsicht bei allen diesen Dingen vorzugehen, besonders wenn man sieht, wie Entschädigungsneurosen in einem fast unheimlichen Maße zugenommen haben und um sich greifen.“
Villinger wurde in den Dokumenten von Werner Hyde – dem Leiter der medizinischen Abteilung der „Euthanasie“-Zentrale und Obergutachter der „Euthanasie“-Aktion T4 – als einer von 40 Gutachtern gelistet. Bei T4-Aktionen wurden Ärzte von Hitler dazu ermächtigt, Menschen zu ermorden, deren Leben als „lebensunwert“ klassifiziert wurde.
Villinger war Beisitzer in zwei Erb(gesundheits)obergerichten ab 1936 in Hamm und ab 1940/41 auch in Breslau. Das Gerichtsverfahren gegen Villinger wurde tatsächlich eingestellt. Wie so viele Prozesse gegen Täter im Nationalsozialismus versandete es aus „Mangel an Beweisen“ und dank gut aufgestellter ärztlicher Netzwerke.
Das Verfahren gegen Villinger wurde allerdings erneut aufgenommen und nur wegen seines Todes nicht weiter verfolgt. Zwei Wochen vor seinem Tod bei einer Bergtour wurde er erneut vom Amtsgericht Marburg zu seiner Tätigkeit als Gutachter vernommen.
Das Auftauchen Villingers auf der Liste der T4-Gutachter ist kein wegzudiskutierender Zufall. Zuck meint: „Es ist eine Aufgabe kritischer JournalistInnen, Relativierungen wie die Remschmidts zu hinterfragen und zu prüfen.“
Der Marburger Erziehungswissenschaftler Wolfram Schäfer hat Zeit seines Lebens gegen diese Relativierungen gekämpft und umfassend zu den Hintergründen Stuttes und Villingers recherchiert. Dabei ist er immer wieder in Konflikt geraten mit Remschmidt. Daraus zieht Woolf einen klaren Schluss: „Daher ist es eine Farce, dass ausgerechnet Helmut Remschmidt für sich nun beansprucht, die NS – Täterschaft seiner Vorgänger einordnen zu können.“ * pm: AStA Marburg