Eine Neue Stadtschrift erzählt eine Opfer-und-Täter-Biographie aus der Nazi-Zeit. Sie will „Dem Vergessenen einen Namen geben“.
Mehr als drei Jahre lang hat Jürgen Hahn-Schröder recherchiert, um nun eine ganz besondere Biographie veröffentlichen zu können: Er erzählt vom Leben des Lehrers Friedrich Carl Sell, der von 1933 bis 1937 an der Elisabethschule unterrichtete . Das ist die Biographie eines Mannes, der in der Nazi-Hochburg Marburg dafür einstand, „humane Prinzipien zu leben“.
Gleichzeitig ist es aber auch die Biographie der lokalen Nazi-Größe Oskar Wolf, der Sell aus dem Schuldienst und in die Emigration trieb. Zur Vorstellung der jüngsten Stadtschrift waren zwei Enkelinnen von Oskar Sell mit ihren Familien nach Marburg gereist.
„Es ist eine große Ehre und es hätte ihn wohl auch selbst überrascht, dass wir heute anlässlich dieser Publikation in Marburg sind““, sagte Lynn Meins im Historischen Saal des Rathauses. Sie ist die älteste Enkelin von Friedrich Carl Sell.
Aus Amerika mitgebracht hat sie eine Postkarte ihres Großvaters. Geschrieben hat er sie zwei Wochen nach ihrer Geburt, auf der steht, es sei das erste seiner berühmten Schreiben an sie, die dann im Jahre 2022 veröffentlicht werden würden.
„Mein Großvater hatte viele Talente, aber dass er hellsehen konnte, wusste ich nicht“, scherzte Meins. Es sind nun aber nicht diese Briefe, die veröffentlicht werden, sondern die Erinnerung an ihn und an seinen Widersacher Oskar Wolf.
Wie wichtig es ist, die Erinnerung lebendig zu halten und Geschichte nicht zu vergessen, betonte auch Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies bei seiner Begrüßung der rund 80 Gäste, die zur Vorstellung der Stadtschrift ins Rathaus gekommen waren. Mit mehreren Vorträgen und einem besonderen musikalischen Rahmen hatte die Stadt zu einem öffentlichen „Abend der Erinnerungskultur“ eingeladen. Eröffnet hat ihn Sabine Preisler als Leiterin der Marburger Stadtschriften.
Der Oberbürgermeister zitierte seinen Amtsvorgänger Dr. Hanno Drechsler mit den Worten „Aufklärung der Vergangenheit wirkt ihrer Verklärung entgegen –
ebenso ihrer Missachtung“. In dieser Tradition stünden eine Vielzahl der Stadtschriften, Darin liege eine historische Verpflichtung für die Stadt.
Das Besondere dieser Stadtschrift sei, dass sie anhand eines konkreten Lebenslaufs die Geschichte „fühlbar, erlebbar und spürbar“ mache. „Und vielleicht das Eindrucksvollste ist, dass Opfer und Täter einander gegenüberstellt sind“, erklärte Spies.
Das sieht auch der Historiker Prof. Dr. Eckart Conze von der Philipps-Universität als einen besonderen Verdienst des Buches. „Man kann es nicht hoch genug loben“, sagte Conze. Er betonte, dass die Verbindung von Opfer- und Tätergeschichte banal klinge, es aber mitnichten sei.
„Täter und Opfer bekommen hier ein Gesicht, sie begegnen uns als Menschen“, erläuterte der Historiker. In diesem Fall würden sie als Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, aus der Mitte der Marburger Stadtgesellschaft dargestellt.
Das sei von Bedeutung für die Stadt, für die Schule. Aber die Aussagekraft der Stadtschrift als exemplarische Studie reiche weit über den lokalen Rahmen hinaus. Die Frage nach den Ursprüngen der nationalsozialistischen Herrschaft, die Frage „Wie konnte es dazu kommen?“ habe Sell bis an sein Lebensende verfolgt.
Mit ihr beschäftigte er sich auch in seinem wichtigsten Werk „Die Tragödie des deutschen Liberalismus“. Sowohl die Lektüre dieses Buches als auch die der Stadtschrift könne er nur empfehlen, betonte Conze – in Erinnerung an „den Historiker, den Pädagogen, den Emigranten, den Humanisten und den Menschen Friedrich Carl Sell“.
An den Menschen hat Sells Enkelin Lynn Meins nur Kindheitserinnerungen – sie war gerade einmal sieben Jahre alt, als er 1956 starb. Seine Frau Else überlebte ihn um 35 Jahre.
In ihrem Zuhause habe man ihn immer spüren können, erzählte Meins. Die Großeltern hätten immer Wert auf Kontakte und Austausch gelegt. Deshalb sei auch sie während ihres Germanistik-Studiums ein Jahr in Deutschland gewesen – wo die damals dreijährige Cousine sie tatkräftig beim Deutschlernen unterstützte, wie sie schmunzelnd verriet.
Die Zusammenarbeit mit Hahn-Schröder sei äußerst erhellend gewesen, berichtete Meins weiter. Sie habe Details zu Tage gefördert, die ihr selbst zuvor unbekannt gewesen seien. Zusammen mit ihrer Schwester arbeitet sie nun an einer Übersetzung des Buches ins Englische vor allem für Freunde und Familie.
Hahn-Schröder stellte seine Stadtschrift und die beiden Protagonisten in einem kurzen Vortrag vor. Friedrich Carl Sell wurde 1892 in Bonn geboren. 1933 kam er als Lehrer für Latein, Geschichte, Erdkunde und Deutsch an die Marburger Elisabethschule.
Damals residierte sie noch in einem Gebäude an der Universitätsstraße. Sell genoss hohes Ansehen bei den Schülerinnen und dem Kollegium.
Zudem entstand ein reger Austausch und eine enge Freundschaft mit dem Theologen Prof. Rudolf Bultmann. Die bislang unbekannten Briefe, die die beiden ausgetauscht haben, sind Teil der Stadtschrift von Hahn-Schröder. In Marburg kreuzten sich dann auch die Lebenswege von Sell und Oskar Wolf, der für die Entfernung Sells aus dem Schuldienst sorgte.
Wolf, laut Hahn-Schröder „ein begeisterter Soldat“, erwirkte die Zwangspensionierung aufgrund zweier „untilgbarer Mängel“. Einer davon war die Tatsache, dass Sells Frau Else aus einer jüdischen Familie stammte. Gemeinsam mit den beiden Töchtern wanderte das Ehepaar 1938 nach Amerika aus, wo Friedrich Carl Sell an der Harvard University lehrte. Else unterrichtete bis zu ihrem 75. Lebensjahr Deutsch an einem College. Den Anstoß zu seiner Stadtschrift mit dem vollen Titel „Friedrich Carl Sell, gute Freund und ein Widersacher – Aus der Schul- und Stadtgeschichte Marburgs in der NS-Zeit und darüber hinaus“ war für Jürgen Hahn-Schröder –
bis zu seiner Pensionierung selbst Lehrer an der Elisabethschule – die Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur an der eigenen Schule.
Der aktuelle Schulleiter Gunnar Merle betonte in seinem Grußwort ebenfalls, wie wichtig es sei, sich zu erinnern und die damit verbundene Herausforderung anzunehmen. „Sich als Schulgemeinde der eigenen Geschichte bewusst zu sein, dient der Verortung im Jetzt, wofür man steht und wofür man nicht steht“, sagte Merle. „Es ist wichtig, dass man sich ins Bewusstsein ruft, dass sich der Vergangenheit zu stellen ein nie endender Prozess ist.“
Vor diesem Hintergrund äußerte sich auch der Archivpädagoge Dr. Bernhard Rosenkötter vom Hessischen Landesarchiv. „Wer soll das alles lesen“ über den Kreis historisch Interessierter hinaus, fragte er angesichts der Vielzahl der Marburger Stadtschriften und dieser neuesten, über 300 Seiten starken Veröffentlichung.
Dennoch sieht er sie als herausragenden Beitrag für die Bildungsarbeit an. Grund dafür sei nicht nur, weil sie Geschichte lokal verorte und „konkret und vorstellbar“ mache, sondern auch weil sie aufzeige, dass es damals möglich gewesen sei, sich zu entscheiden.
Die Relevanz von lokalgeschichtlichen Zugängen in der historischen Bildungsarbeit betonten alle Redenden des Abends. Musikalisch umrahmt wurde er eindrucksvoll von einem Streichquartett, das sich aus Schülerinnen und Schülern dreier Marburger Schulen zusammensetzte: Mathis Schoof, Marcel Borggrefe, Johanna Krausch und Anna Lambach spielten mehrere Stücke des „Danish String Quartet.
Hahn-Schröder überraschte mit einem eigenen musikalischen Intermezzo und dem „Bürgerlied“ auf der Mundharmonika. Im Anschluss an die Präsentation kamen die Gäste zu einem Austausch zusammen und konnten von der Familie des Protagonisten noch Erzählungen aus erster Hand mit nach Hause nehmen.
Die neue Publikation ist als Band 117 der „Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur“ mit der ISBN 978-3-942487-20-7 ab sofort im Buchhandel erhältlich. Aaußerdem können Interessierte sie bei der Stadt Marburg, Markt 8, sowie unter www.marburg.de/stadtschriften und per Mail an pressestelle@marburg-stadt.de zum Preis von 15 Euro bestellen.
* pm: Stadt Marburg