Hass, Terror und Gerechtigkeit sind Themen des Dramas „Die Gerechten“ von Albert Camus. Die beeindruckende Inszenierung von Marc Becker für das Hessische Landestheater Marburg feierte am Samstag (27. Januar) Premiere.
Die Darsteller stehen vor einer Wand aus groben Steinquadern. Sie lesen die Regieanweisungen vor: „Eine Terrorzelle in Moskau, 1905: Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre planen ein Bombenattentat auf den Großfürsten Sergej, den Onkel des Zaren. Ihr Ziel ist die Befreiung des Volkes von der Tyrannei des Zarenregimes.“
Was anfangs befremdlich wirkt, weicht schon bald dem unabweisbaren Sog der dramatischen Spannung. Glichen die einzelnen Gestalten zu Beginn noch Abziehbildern von Revolutionären, so zeigen sie allmählich nicht ur Eifer und Hass, sondern auch Liebe und Skrupel.
Stepan kehrt aus dem Exil in der Schweiz zurück und schließt sich der Gruppe an. Exil und Folter haben in ihm genügend Hass erzeugt, die Bombe auf den verhassten Großfürsten zu werfen.
Doch diese Aufgabe soll Janek Kaljajew übernehmen. Der „Dichter“ ist von seinem Stand als Straßenhändler zur Gruppe zurückgekehrt, um die Kutsche des Großfürsten in die Luft zu sprengen.
Als er jedoch Kinder in der Kutsche sieht, zögert er. Daraufhin entbrennt ein Streit unter den Revolutionären, ob ihre „gerechte Sache“ auch den Tod von Kindern in Kauf nehmen darf.
Stepan zeigt sich hart und kompromisslos. Täglich stürben Tausende von Kindern durch die unterdrückerische Politik des Zarenregimes. Nichte und Neffe des Großfürsten hätte er getötete, ohne zu zögern, behauptet er.
Die anderen Revolutionäre pflichten Janek bei. Eine Revolution, die auch Kinder tötet, werde die Bevölkerung nicht davon überhzeugen können, dass sie für eine bessere Zukunft eintreten will, erklärt Dora.
Beim zweiten Versuch gelingt das Attentat. Janek wird verhaftet und kommt ins Gefängnis.
Hat das Stück des französischen Dramatikers und Philosophen in den ersten drei Akten eine vielschichtige und tiefgehende Debatte um Gewalt und ihre Rechtfertigung überaus anschaulich auf die Bühne gebracht, so legt es im vierten Akt noch zu und zeigt die Meisterschaft seines Autors. Ein Mithäftling erlöst Janek aus der Isolationshaft. Doch als die beiden ins Plaudern kommen, offenbart er, dass er der Henker ist und für jeden, den er ins Jenseits befördert, ein Jahr seiner Haftstrafe erlassen bekommt.
Der Polizeichef betritt die Zelle und kündigt Janek den Besuch der Großfürstin an. Wenn Janek nicht seine Freunde verrate, werde man in den Zeitungen die Meldung veröffentlichen, er habe seine Tat gegenüber der Großfürstin bereut. Janek will sie aber trotzdem nicht sehen.
Die absolut stärkste Szene war dann das unvermeidbare Aufeinandertreffen Janeks mit der Großfürstin. Minutenlange Stille auf der Bühne und im Publikum steigerte die Spannung bis fast ins Unerträgliche. Sehr ausdrucksstarke Mimik beider Darsteller trut diese Stille über mehrere Minuten hinweg so eindringlich, dass die Theatergäste den Atem anhielten.
Mit dieser Inszenierung ist allen Darstellern eine beeindruckende Umsetzung des großartigen Stoffs von Camus gelungen. Besonders herausgestochen haben dabei Camil Morariu und Julia Glasewald; aber auch alle anderen Schauspieler überzeugten absolut uneingeschränkt.
Langanhaltender Applaus war der angemessene Dank des Publikums für diese großartige Leistung aller Beteiligten. Zweifellos zeitlos ist die Debatte um die Opfer, die man für eine „gerechte Sache“ bringen darf; brennend aktuell ist zugleich die intensive Auseinandersetzung mit der Frage, was Hass aus Menschen machen kann und wie man damit umgehen soll.
* Franz-Josef Hanke
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