Graffitis gibt es garantiert genug in Marburg. Ein Bild sticht darunter aber deutlich heraus.
Morgens halb verschlafen – auf dem Weg zur Arbeit ausnahmsweise mit dem Bus – machte ich in Bahnhofsnähe eine Entdeckung, zu der ich als Radfahrer normalerweise nicht komme: von meinem Sitzplatz aus fiel der entspannte Blick auf ein Graffiti an der schattigen Innenseite einer Säule, die ein bisschen höher die – Marburg durchziehende – Autobahn trägt.
Das Graffiti, das sich direkt neben einem alten Kaugummiautomaten befindet, zeigt zwei Hand in Hand gehende Kinder, mit dem Rücken zum Betrachter. Die seitlich der anderen Person zugeneigten Köpfe tragen Masken, die darauf schließen lassen, dass das leicht verwitterte Graffiti nicht vor der Corona-Pandemie entstanden sein konnte. Zum genauen Hinschauen blieb allerdings in einem fahrenden Bus wenig Gelegenheit.
Doch dieses Graffiti machte auf mich den Eindruck, dass es sich um einen Banksy handeln könnte. Ein Banksy? In einer mittelhessischen Kleinstadt, die ja nicht gerade zu Banksys bevorzugten Schaffensorten gehört, wo normalerweise kritische Messages von weltpolitischer Brisanz zum Ausdruck gebracht werden.
Für Banksy spricht allerdings der leicht naive Zeichenstil sowie der Umstand, dass die Graffitis zumeist an abgewrackten und verlassen wirkenden Plätzen gesprüht werden, die typischerweise Teil des Graffitis werden. So könnte auch die Marburger Stadtautobahn, ein Schandfleck und ewiges Ärgernis vieler Bewohner im Zusammenhang mit jenem Graffiti stehen.
Wenn sich die zwei Kinder entlang der Autobahn bewegen, ja in sie hineinzugehen scheinen – dargestellt mit bunten Farben – im wohltuenden Kontrast zur ewigen Tristesse der farblos dahin lärmenden Autobahn, könnte der Betrachter darin den Wunsch entdecken, dass dieses ungeliebte Monstrum angenehmeren Zwecken weiche. Am Beispiel der zwei Kinder ließe sich alternativ zur Autobahn eine nette Flaniermeile errichten, wo eine – ungestört vom Lärm – entspannte Unterhaltung möglich wäre. Auch die von den Kindern getragenen Masken könnten in diesem Zusammenhang nicht nur inspiriert sein von der Notwendigkeit, sich vor Coronaviren zu schützen, sondern auch vor den Abgasen der CO2 verbreitenden Fahrzeuge.
Ein Banksy – echt jetzt? Um Klarheit zu schaffen, setzte sich ein Bekannter, den ich sogleich informierte, mit dem städtischen Kulturamt in Verbindung, das sich an den besagten Ort begab, um ein Foto von dem Kunstwerk zu machen. Wie sich herausstellte, handelte es sich zwar nicht um ein Banksy, aber immerhin um ein Banksy-Imitat des sogenannten Reverse-Künstlers „seiLeise“ alias Tim Ossege aus Köln, der aber wie Banksy auch sehr professionel arbeitet und ein international hohes Renommee genießt.
Wie Monika Bunke vom Kulturamt der Stadt Marburg näher ausführte, sei dieses Graffiti – neben einem weiteren, das hinter dem Bettenhaus angebracht ist, im Rahmen einer Auftragsarbeit entstanden. Das Bild wurde bereits damals abfotografiert, aber – anders als die Banksy-Kunst – nicht vom Entstehensort isoliert, um in Museen ausgestellt zu werden. Ganz im Sinne Banksys, der den kommerziellen Kulturbetrieb sehr kritisch betrachtet, ist die Streetart dazu bestimmt, den Weg von allem Irdischen zu gehen – für eine kurze Dauer sichtbar zu sein.
*Sabine Ferber