Das Klassenzimmerstück „Ändern Leben. Malala Yousafzai und Sophie Scholl“ des Hessischen Landestheaters Marburg (HLTM) feierte am Dienstag (1. Oktober) Premiere in der Gerhart-Hauptmann-Schule. Die Uraufführung fand in einer 3. Klasse statt.
In der Mitte des Klassenzimmers steht ein Tisch. Er ist bedeckt mit einer weißen Papiertischdecke. Darauf arrangiert sind einzelne weiße Rosen in schmalen Vasen und fünf weiße Ballons. Dazu liegen mehrere Stapel leerer Blätter verteilt auf dem Tisch. In der Mitte thront ein saftiger Zitronenkuchen. Er ist dick mit Zuckerguss überzogen und großzügig mit Puderzucker bestreut. Um den Tisch versammelt sind Regisseurin Eva Lange, Autorin Anah Filou sowie weitere Mitglieder und Verantwortliche des Theaterensembles. Schließlich werden die etwa 15 Drittklässlerinnen und Drittklässler hereingebeten. Sie nehmen auf den freien Stühlen zwischen den Erwachsenen Platz. Es herrscht eine innige, fast familiäre Atmosphäre. Voller Neugier und Spannung schwebt die unausgesprochene Frage im Raum, was in den nächsten 45 Minuten wohl geschehen wird. Leise öffnet sich die Tür. Alle Augen richten sich gespannt auf die beiden Schauspielerinnen. Hereinkommen eine ältere und eine jüngere Frau, beide blond und in weiße Spitzenblusen und weiße Hosen gekleidet. Sie betreten beinahe schleichend den Raum, laufen um den Tisch herum und lassen ihren Blick in die Runde schweifen.
„Ändern Leben. Malala Yousafzai und Sophie Scholl“. Mit diesem Stück haben Autorin Anah Filou, Regisseurin Eva Lange, Theaterpädagogin Mia Scarcello und die Schauspielerinnen Saskia Boden-Dilling und Magdalena Hanetseder etwas ganz Besonderes erschaffen. Sie erzählen. Im Hier und Jetzt. Es geht um Malala und Sophie. Um die Taliban, um Unterdrückung und die Grausamkeiten des NS-Regimes. Es geht um Schule und Theater und um das Miteinander. Es geht um Jahreszahlen. 1921, 1943, 1997, 2012, 2014… Und um das Jetzt. Nämlich genau jetzt. In diesem Klassenzimmer, Hier und Jetzt. Es geht um Wissen und Lernen. Um das, was wir gerne lernen, aber auch um das, was wir noch lernen wollen. Es geht darum, das Lernen zu lernen: Rechte einzufordern und wütend zu sein. Aber auch darum, Veränderung zu lernen. Zu wachsen. Die Flügel zu spannen und in die Freiheit zu fliegen.
Außerdem geht es um Widerstand. Um das Nicht-Einverstanden-Sein. Darum, sich niemals und von niemandem „uniformieren und narkotisieren“ zu lassen. Sich gegen Regime zu erheben, die „aufkeimendes Selbstdenken“ ersticken wollen. Es geht um den Widerstand gegen blindes und stumpfes Folgen und gegen den Zwang, alle gleich zu machen, während wir in unserer Einzigartigkeit doch alle so verschieden sind. Dass es wichtig ist, aller Gewalt zum Trotz sich selbst zu bewahren und für ein weiches Herz zu kämpfen. Und vor allem geht es um Freiheit und Gerechtigkeit. Und den großen Mut der „wachsend über sich hinaus Wachsenden“. Den Mut, den es braucht, um ein kleines Samenkorn zu pflanzen, das die Welt verändern kann. Denn vielleicht ist gerade „all das Schreckliche das Hilflose, das von uns Hilfe will?“ Es geht also darum, das Ändern zu leben. Und es geht um Zitronenkuchen.
Was Malala Yousafzai und Sophie Scholl verbindet, ist ihr unerschütterlicher Glaube an Gerechtigkeit und Freiheit. Beide sind außergewöhnliche Frauen, die unter extremen Bedingungen gegen mächtige Regime kämpften – Malala für das Recht auf Bildung in Pakistan, Sophie Scholl im Widerstand gegen das NS-Regime. Sie riskierten ihr Leben, um für ihre Überzeugungen einzustehen und wurden so zu Symbolen für Widerstand gegen Unterdrückung. Ob Malala und Sophie Freundinnen geworden wären? Wer weiß. Doch eines steht fest: Sie waren mutig, sie setzten sich zur Wehr und sie sind bis heute inspirierende Vorbilder. Das Stück verbindet die Lebensgeschichten dieser beiden bemerkenswerten Frauen, um eine kraftvolle Botschaft zu vermitteln: den mutigen Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Durch die Verknüpfung ihrer Geschichten wird deutlich, dass ihr Einsatz zeit- und ortsunabhängig für dieselben universellen Werte steht. Sie ermutigt dazu, „jetzt hier gemeinsam eine neue Zukunft zu bauen, okay?“
Das Stück erzählt keine klassische Geschichte. Vielmehr handelt es sich um ein Spiel im Spiel. Anstatt einer linearen Handlung zu folgen, erzählen die Akteurinnen die Geschichten von Malala und Sophie mit ihren eigenen Worten, Gesten und Requisiten. Dabei stellen sie immer wieder den Bezug zur Gegenwart her. Dieses interaktive Format bindet die Kinder in die Handlung ein und lässt sie Teil der Geschichte werden. In einer Szene kriechen beispielsweise alle gemeinsam unter den Tisch. Dadurch entsteht das Gefühl einer schützenden Höhle, in der ein bedeutsames Geheimnis und ein besonderer Moment geteilt werden. Diese Umgebung schafft eine intime Erzählatmosphäre, die Wirkung entfaltet. Durch ihre herzliche und empathische Art schaffen Hanetseder und Boden-Dilling eine enge Verbindung zu ihrem jungen Publikum. Die Kinder zeigten große Freude und Neugier, sowohl an den „Menschen vom Theater“ als auch an dem, was die beiden Schauspielerinnen ihnen zu sagen hatten.
Bei diesem Klassenzimmerstück handelt es sich also um ein einzigartiges und besonders schönes Projekt, das kraftvolle und inspirierende Botschaften vermittelt. Elisa Tittl vom Hessischen Landestheater Marburg beschrieb es als „Gänsehautstück“. Die bewegende Inszenierung erntete herzlichen Applaus. Zurück blieb das Gefühl, Teil eines besonderen Augenblicks gewesen zu sein. Abschließend überreichten die Kinder kleine weiße Rosensträußchen und Schokoladenherzen, sowie Plakate, auf denen weiße Rosen klebten. Darin haben sie die Erfahrungen und Erkenntnisse festgehalten, die die Klasse während ihrer Auseinandersetzung mit dem Stück und den Lebensgeschichten der beiden jungen Frauen gesammelt hatte.
Da das Stück eine vielschichtige Thematik behandelt, wird es für Kinder und Jugendliche im Alter von 7 Jahren bis zur 11. Klasse empfohlen. Die Aufführungen finden nicht nur als Klassenzimmerstück in Schulen statt, sondern auch im „Kleinen Tasch“ des HLTM. Die nächste Vorstellung ist am Sonntag (13. Oktober) um 15 Uhr.
- Leonie Schulz